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nicht in dem Besitz zufälliger Glücksgüter und in den schmeichelhaften
Lauten eines ebenso zufälligen Ruhms. Er muß und wird durch sich
selbst alles sein, was er sein kannn Sein Verdienst muß ihm allein
angehören, allein aus ihm hervorgehen, wenn er es achten und sich
selbst vertrauen soll. Es kann ihm nicht gegeben oder geschenkt werden,
es ist die freie Selbstkraft seiner inneren Größe, die sich nur durch
sich selbst ausmessen läßt und keinen andern Maßstab über sich erkennen
kann. Ihr Charakter ist ewige Unwandelbarkeit, weil sie von ewigen
Grundsätzen ausgeht, und ein heiliger Wille, der um seiner selbst vinen
so gut ist, als es die Schranken der Menschheit erlauben Der seelen.
große Mann ist es immer. Diese Seelengröße begleitet ihn zum Thron
und zur Bettlerhütte; er kann mit stolzem Selbstgefühle seinen äußern
Rang, wenn er dessen nicht mehr bedarf, von sich werfen und wie ein
Cincinnatus von der mächtigen Diktatur zum einsamen Pfluge zurückkehren.
Der seelengroße Mann ist und bleibt es in den bedenklichsten und
traurigsten Lagen seines Lebens. Eine Seelengröße in guten Tagen
wäre nichts, als eine Periode, die sich bei einiger Gewandtheit gar
leicht abthun läßt. Die Größe des wahren Mannes muß über sein
Schicksal hinausgehen, ohne daß er mit ihr liebäugeln will. Er ist
freilich Mensch, er wird die Schläge des Unglücks füͤhlen; es kann in
einzelnen Momenten ein fürchterliches Dunkel in seinem Gemüte herrschen,
allein er ist doch der Fels in Ungewittern. Er wird es für ehrlos
halten, den Kampf nicht bestehen zu wollen. Ehe er sich in seinen
eigenen Augen verächtlich würde, geht er lieber dem Tode entgegen;
aber er läßt sich auch nicht mutwillig morden, wenn er der Nieder—
trächtigkeit entgehen kann; noch weniger mordet er sich selbst, wenn der
mächtigere Feind siegt.
Ferner zeigt die Seelengröße stets einen offenen und geraden
Charakter, der keine Menschenfurcht kennt, weil die Menschheit selbst
unbefangen und schuldlos in ihm wohnt. Er kennt keine krummen Linien
auf der Bahn seines Lebens; er ist immer wahr und sich selbst getreu;
aber eben deshalb bisweilen in seinen Entscheidungen kühn, weil der
Mut im Geleite eines guten Gewissens jedesmal dem edleren Heroismus
gleicht. Aber diese höhere Willensstärke wird die Eingebungen der
ratenden Vernunft nicht vernachlässigen, der seelengroße Mann wird in
solchen Fällen die Lebensklugheit befragen, ohne daß er je seine leiseste
Stimme einem Ränkespiel geben könnte; der Seelenstarke bedarf keiner
Aist, da sie nur der Charalter der Schwäche ifnn Sein Geist, sein
Leben, seine ganze Denkungsart ist ein offenliegendes, zusammenhängendes
Werk, worin jeder Verständige zu seiner Veredlung lesen kann.
Der seelengroße Mann ist der warmer Verehrer jeder Menschen—
größe, wo er sie findet; er betrachtet sich als ihren Verwandlen und
Vertrauten, alle großen Menschen gehören zu seiner Familie, er berat—
schlagt sich mit ihnen, ohne sie zu kennen, er fühlt sich in seinem Innern
Deutsches Lesebuch f. böbere Lehranstalten. II. 2
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