§. 498. l. Frankreich und England. 901
Neue die Rechte der gallicanischen Kirche sicher zu stellen, indem er durch
Erneuerung und Erweiterung des von Ludwig dem Heiligen herrührenden Reichs¬
gesetzes, „pragmatische Sanction" genannt (§. 492), die selbständige
Stellung des französischen Klerus gegenüber der römischen Curie und die Frei¬
heiten der Nationalkirche auf einer Versammlung von Prälaten, Rechtsgelehrten
und weltlichen Großen zu Bourges festsetzte, um die oberste Rechtspflege
wieder ganz in die Hände des von ihm gereinigten und neu begründeten Parla¬
ments (obersten Gerichtshofes) von Paris zu bringen. So verlieh Karl VII.
durch Glück und milden Gebrauch seines Sieges der Krone Frankreichs neues
Ansehen und sichere Stützen.
Johanna von Orleans und Karl VH. Johanna war von schlanker, kräftiget Gestalt,
sagt ein neuerer Schriftsteller; ihr Gesicht erhielt erst in den Augenblicken innerer Bewegung
einen schönen Ausdruck, ihre Züge verklärten sich bann und ihre Aufregung entlockte ihr eben so
leicht Thränen als freubiges Lächeln. Sie gefiel sich in fchtmmetnbet Rüstung unb auf feurigem
Rosse. Ueber ben Panzer warf sie eine kurze Blouse unb bett langen offenen Faltenrock, wie ihn
bie Männer barnals trugen. Sie hatte eine sanfte, einnehmende Stimme. Sie sprach wenig, ihre
Rebe war schlicht unb bestimmt unb selbst in erhöhter Stimmung schmucklos. In jeber Lage flößte
sie Allen, bie ihr nahten, eine Ehrfurcht ein, bie sie vor Zudringlichkeit schützte. Sie brachte oft
manche Tage zu Pferbe unb ganze Nächte in bet Rüstung zu. Bei beut Heer führte sie Zucht unb
Orbnung ein unb hielt auf ehrliche Kriegführung; ben König ermahnte sie, nach ben Grundsätzen
bes heiligen Ludwig zu regieren, die Städte schützte sie in ihren Gerechtsamen, das Volk t-or Willkür
und Bebtückung. Alle, bie mit Johanna in Orleans lagen, haben ihre politische Einsicht bewun¬
dert, bie ans ber ihr angebornen freien Anschauung, aus ihrem bei aller Begeisterung nüchternen
Verstaub entsprang. Unb was bet Verstand ihr eingab, wußte sie mit betn Muthe gläubigen Ver¬
trauens zu vertreten. Außer betn Glauben ihrer göttlichen Senbmtg trug sich bie Menge noch mit
vielen Sagen von ihrer Wunberkrast unb erwies ihr abgöttische Verehrung. — Nach ihrer Gefan-
gennehmung machte sie einen Fluchtversuch. Er mißlang und sie würbe barauf von ben Eng-
länbem an bas geistliche Gericht in Rouen abgeliefert. Nach langem inquisitorischen Verfahren ließ
sie sich zum Wiberruf ihres Irrglaubens bewegen. In einer feierlichen Sitzung auf öffentlichem
Platze in Rouen entsagte sie in einer kurzen Abschwörungsformel ihrem bisherigen Glauben und
Thun, bekannte gegen die heilige Schrift unb bie Satzungen ber Kirche gefehlt, Visionen erheuchelt,
wiber göttliches Gebot bie Waffen ergriffen, männliche Kleidung getragen zu haben. Zum Zeichen
der Bekehrung versprach sie die Männerkleidung abzulegen. Darauf wurde sie zu ewiger Haft bei
Wasser und Brod verurtheilt. Aber dieser Spruch war bem englischen Volke unb betn Regenten
nicht genügenb; man suchte sie zu bestricken unb zu Fall zu bringen. Rohe Wächter nöthigten sie,
im Gefängniß Männerkleibet anzulegen. Darüber betroffen, wurde sie bes Rückfalls zur Ketzerei
schnlbig gefmtben unb zum Flammentob verurtheilt, ben 30. Mai 1431. Sie starb mit bentfelben
Heldenmuth, den sie auf dem Schlachtfeld bewährt hatte, unb in betn festen Glauben an ihre göttliche
Senbmtg; noch aus ben Flammen heraus ertönte ihr Bekenntniß zu ihrem Glauben. König
Karl VH. erhob bie Jungfrau von Orleans unter bem Namen Jeanne b'Arc nebst ihrer gan¬
zen Familie in bett Abelsstanb unb verlieh ihrem Heimathsort Steuerfreiheit auf ewige Zeiten.
Int I. 1450 würbe ein Rehabilitationsproceß eingeleitet unb Johanna von ber Schmach bet
Ketzerei freigesprochen. Auf bem Platze ihrer Hinrichtung würbe ein Denkmal aufgestellt. —
Karl VII. war ein schwacher, unselbstänbiget Fürst, bet ben Feinden bet Jungfrau nicht selten sein
Dhr lieh. Aufgewachsen inmitten ber Auflösung aller Verhältnisse, kannte er nicht bie Heiligkeit
der Familienbanbe, nicht bie Grundsätze, noch ben sichern Gang geregelten Staatswesens, nicht bie
ewigen Gesetze sittlicher Orbnung. Höflinge und Schmeichler hatten ihm einerseits das Beispiel
der Intriguen unb Leibenfchasten gegeben, andererseits ihn in bie Frivolität des Hoflebens ein¬
geführt. Er war ein Spielball ber Ereignisse, die er nicht zu beherrschen vermochte, ohne Energie
und Selbstvertrauen, das Schattenbild eines Herrschers, unfähig, die Macht unb das Ansehen des
Königthums wiebet aufzurichten, ohne Sinn für dieHoheit seines nationalen Berufs. — Calais
1438.