Full text: (Prosa) (Teil 7 - 9 in 1 Bande, [Schülerband])

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der junge Rousseau wurde vorläufig bei Frau von Warens in Annecy 
untergebracht, dann in einem Kloster in Turin zum Übertritt vor¬ 
bereitet; bald darauf wurde der sechzehnjährige Knabe in S. Spirito 
in den Schoß der katholischen Kirche feierlich aufgenommen. Durch den 
Übertritt hatte Rousseau sein Genfer Bürgerrecht verloren, die gehoffte 
Versorgung aber nicht erhalten; nachdem er vier Jahre hindurch aben¬ 
teuernd in der Schweiz und Südfrankreich umhergeschweift, kehrte er zu 
Frau von Warens zurück, die inzwischen ihren Wohnsitz nach Chambéry, 
der Hauptstadt von Savoyen, verlegt hatte. Frau von Warens war 
als ganz junge Frau in einer leichtsinnigen Stunde ihrem Gatten in 
Vevey entlaufen, in der Nacht quer über den See nach Evian gefahren, 
hatte sich hier dem König Victor Amadeus von Sardinien zu Füßen 
geworfen und von ihm nach ihrem Übertritt zum Katholizismus eine 
Pension von 2000 Franken erhalten. Rousseaus Mutter war gleich 
nach seiner Geburt gestorben; dem verlassnen Knaben ersetzte nun Frau 
von Warens die Mutter; sie ließ sich seine Erziehung angelegen sein; 
als er zum Jüngling heranreifte, wurde sie ihm eine Geliebte, deren 
Anmut, Bildung und Herzensgüte seine schwärmerische Verehrung 
fesselten. Acht Jahr verweilte er in ihrem Haus, im Winter in der 
Stadt, im Sommer auf einem Landsitz, Les Charmettes, ganz in der 
Nähe; es war die glücklichste Zeit seines Lebens. Bei Frau von Warens 
trat Rousseau auch zum ersten Male der Botanik näher, freilich in wenig 
sympathischer Gestalt. Unter Botanik verstand man damals die Kenntnis 
gewisser Kräuter, aus denen die Apotheker ihre Tränke brauten; außer¬ 
dem vererbten sich in den Familien geheime Rezepte zur Bereitung 
eines besonders heilsamen Kräutertees, und auch die Klöster waren 
im Besitz von Geheimmitteln, die sie in Gestalt von Likören, Balsamen 
und Elixieren aus allerhand Pflanzen zu bereiten verstanden. 
Auch Frau von Warens betrieb in Chambéry ein Geschäft mit 
heilsamen Alpenkräutern und medizinischen Geheimmitteln; sie hatte einen 
jungen Landsmann zum Kammerdiener, der ursprünglich Herborist, oder, 
wie wir in Deutschland sagen, medizinischer Laborant gewesen und das 
Rezept zur Bereitung des berühmten Schweizer Tees besaß; er war dann, 
wie sie selbst, nach Savoyen geflüchtet und konvertiert; mit seiner Hilfe 
legte sie in ihrem Haus ein Laboratorium und einen kleinen Garten 
mit Arzneipflanzen an; sie betrieb selbst mit Eifer den Plan, in Cham¬ 
béry eine medizinische Schule mit einem botanischen Garten ins Leben 
zu rufen, an dem ihr Schützling als Professor, oder wie man damals
	        
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