W. O. v. Horn, Drei Tage und zwei Lieder.
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Der Arzt verschreibt etwas und eilt nach Hause. Da steht ein
Bursche mit einem ledigen, gesattelten Pferde. „Was giebt's?“ fragte
der Arzt. „Der Schultheiß von Wachau läßt Euch um Gottes willen
bitten, gleich hinauszukommen. Seine Frau ist gefährlich erkrankt.“
Der Doktor schwingt sich auf das ledige Pferd und trabt davon. Es
war fast nicht durchzukommen. Preußisches Militär nahm die Straße
ein. Endlich kommen sie vor des Schultheißen Haus an, und der
Arzt geht an seine Pflicht. Als die Gefahr vorüber ist, muß er an
der Tafel Platz nehmen, wo eben preußische Offiziere bei der Mahlzeit
sitzen; denn der Schultheiß hatte auch eine Wirtschaft. Der Doktor
hatte riesenmäßigen Hunger und hieb tapfer ein. Als der Grund ein
wenig gelegt war, sagte der vornehmste der Offiziere: „Herr Doktor,
Sie sind wohl aus Leipzig?“ „Zu dienen,“ antwortete der Arzt und
schnitt noch ein Stück Bratwurst ab. „Kennen Sie auch den Professor
und Dichter Gellert?“ Jetzt legte der Doktor Messer und Gabel hin
und erwiderte: „Ich bin sein Arzt und sein Freund.“ „So? Man hat
mir gesagt, er sei kränklich.“ „Das ist er leider, sollte eben mehr
Bewegung haben; habe ihm diesen Morgen gesagt, er solle sich einen
Gaul kaufen.“ „Und das wird er doch thun?“ „Ja,“ sagte lächelnd
der Arzt, „das Wollen wäre schon da, aber beim Vollbringen hapert's,“
und dabei rieb er den Zeigefinger am Daumen. „Ist Gellert arm?“
fragte der Offizier teilnehmend. „Arm, wie eine Kirchenmaus;“ und
nun erzählte der Doktor alles, was er wußte, namentlich von Neidhardt
und vom armen Schuster. Der Offizier schlug die Hände zusammen,
indem er rief: „Und so ein herrlicher Mann kann kein Holz und kein
Pferd kaufen! Aber, Herr Doktor, lassen Sie mich doch Gellerts Hand—
schrift und sein neues Lied sehen, von dem Sie sprachen,“ und der
Offizier las:
1. Ich hab' in guten Stunden
des Lebens Glück empfunden
und Freuden ohne Zahl:
so will ich denn gelassen
mich auch in Leiden fassen;
welch Leben hat nicht seine Qual?
3. Dir will ich mich ergeben,
nicht meine Ruh', mein Leben
mehr lieben als den Herrn;
dir, Gott, will ich vertrauen
und nicht auf Menschen bauen.
Du hilfst und du errettest gern.
2. Ja, Herr, ich bin ein Sünder, 4. Laß du mich Gnade finden,
und stets strafst du gelinder, mich alle meine Sünden
als es der Mensch verdient. erkennen und bereun;
Will ich, beschwert mit Schulden, jetzt hat mein Geist noch Kräfte,
kein zeitlich Weh erdulden, sein Heil laß mein Geschäfte,
das doch zu meinem Besten dient? dein Wort mir Trost und Leben sein.
Meyer u. Nagel, Deutsches Lesebuch für Realschulen. Ausg. B. Teil UI.