Full text: Für Klasse 3 (achtes Schuljahr) und die Untertertia der Studienanstalten (Teil 7, [Schülerband])

freie und volle Entfaltung der menschlichen Kräfte des Lebens Ziel war, 
so daß, wer in diesem Streben vor allem Volke Anerkennung errungen 
hatte, sich reich belohnt fühlte, so reich, daß ihm die Welt mit ihren 
Schätzen nichts Höheres zu bieten vermochte. Bei den Ausdrücken, mit 
welchen neuere Völker die menschliche Bildung bezeichnen, denkt man 
fast ausschließlich an die geistigen Anlagen. Dem griechischen Sinne 
war der Gedanke durchaus fremd, daß der Mensch aus zwei ungleich 
berechtigten Hälften bestehe, und daß er nur mit der geistigen Be¬ 
gabung die Verpflichtung erhalten habe, die anvertrauten Kräfte mit 
aller Sorgfalt zu stärken und zu veredeln. Die Griechen erkannten 
in dem Bau des Leibes und der hohen Bildungsfähigkeit seiner Organe 
eine gleich wichtige und unabweisliche Forderung der Götter. Die Frische 
leiblicher Gesundheit, Schönheit der Gestalt, ein fester und leichter Schritt, 
rüstige Gewandtheit und Schwungkraft der Glieder, Ausdauer in Lauf 
und Kampf, ein helles, mutiges Auge und jene Besonnenheit und Geistes¬ 
gegenwart, die nur in täglicher Gewohnheit der Gefahr erworben wird, 
diese Vorzüge galten bei den Griechen nicht geringer als Geistes¬ 
bildung, Schärfe des Urteils, Übung in den Künsten der Musen. Das 
Gleichgewicht des leiblichen und geistigen Lebens, die gleichgewogene Aus¬ 
bildung aller natürlichen Kräfte und Triebe war den Hellenen die Auf¬ 
gabe der Erziehung, und darum stand neben der Musik die Gymnastik, 
um von Geschlecht zu Geschlecht eine an Leib und Seele gesunde Jugend 
zu erziehen. Darauf beruhte das Gedeihen der Staaten. Deshalb blieb 
jene Doppelerziehung nicht dem Ermessen der einzelnen Häuser anheim¬ 
gestellt, sondern überall — wenn auch nicht in der Gesetzesschärfe, wie 
in Kreta und Sparta — wurde die von den Vätern überlieferte Sitte 
gymnastischer Übungen vom Staate geordnet und gefördert. 
Öffentliche Gymnasien mit großen, sonnigen Übungsplätzen, von 
Hallen oder Baumreihen eingeschlossen, meistens vor den Toren in länd¬ 
licher Umgebung angelegt, durften in keinem Orte fehlen, der auf den 
Namen einer hellenischen Stadt Anspruch machte. Wer nach Ansehen 
und Einfluß unter seinen Mitbürgern strebte, mußte bis zur Vollendung 
männlicher Reife den größten Teil seiner Zeit in den Gymnasien zu¬ 
gebracht haben, und in manchen Städten war es ausdrücklich Gesetz, 
daß niemand in die Bürgerschaft aufgenommen werden durfte, der nicht 
die ganze Reihe gymnastischer Übungen vollendet hatte. Den Eifer 
für diese Übungen erhöhte der Ehrgeiz. Die Gymnasien boten den 
Knaben und Jünglingen tägliche Gelegenheit, die wachsenden Kräfte
	        
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