222
also eine Variante der. bekannten Totentanzbilder. Aus der Rückseite
lesen wir wieder Dürersche Verse, die den Menschen mahnen,
nach Christo zu leben,
Der kann dir ewiges Leben geben,
ihn auffordern,
um Gnad' zu erwerben,
Als sollt' er jede Stunde sterben.
Es liegt in allen diesen Herzensergüssen kein schroffer Widerstand gegen
die Weltanschauung des Mittelalters — Dürer läßt noch die guten
Werke gelten —, aber abgesehen von dem tiefen Ernst und gewaltigen
sittlichen Eifer erscheint in ihnen, wie in seinen künstlerischen Schöpfungen,
ein stärkerer persönlicher Zug ausgeprägt, als er im Mittelalter heimisch
war. An die religiöse Vorstellung knüpft sich eine feste persönliche Über¬
zeugung, die den Bildern den warmen, innigen Ton verleiht und sie
individuell gestaltet. Damit hängt zusammen, daß ihn bestimmte religiöse
Gedankenkreise beherrschen, gegen andere seine Phantasie sich stumpf
verhält. Je nachdem sich sein persönliches Wesen von ihnen stärker
oder schwächer angezogen fühlt, wird auch der künstlerische Sinn von
ihnen verschieden gepackt. Dieses, sein persönliches Wesen hängt aber
mit der allgemeinen Stimmung seiner Zeit und seines Volks eng
zusammen.
Es fällt auf, daß die Bücher des Alten Testaments, für die spätern
deutschen Künstler so fruchtbar an Anregungen, für Dürer stumm blieben.
Die Bibel war noch nicht Haus- und Unterhaltungsbuch geworden.
Ebenso fremd blieben ihm die mittelalterlichen Heiligenlegenden. Wenn
er Heilige darzustellen hat, so begnügt er sich in der Regel mit der
Wiedergabe ihrer Figur. Christi Leben und Leiden besitzen für ihn
die größte Anziehungskraft, außer Christus noch Maria, zu deren Schil¬
derung ihm aber nicht so sehr die Überlieferung, wie die persönliche
Empfindung die Farben mischt. Sechsmal hat, soviel wir wissen, Dürer
die Madonna mit dem Christkinde aus dem Arm, stets nur im Brustbild,
gemalt. Keine einzige Darstellung ist volkstümlich geworden. Die Schuld
mag die unvollkommne malerische Technik mit tragen. Die vornehmste
Ursache der geringern Wirkung dieser Marienbilder liegt aber doch
in dem Mangel individueller Auffassung. Dürer hat sich, während er
an ihnen malte, nicht zu klarer Selbstbesinnung emporgearbeitet, den
Faden, der sich sonst vom Gegenstände der Darstellung zu seiner