v. Tschudi: Naturbilder aus der Alpenwelt.
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fach zur Bedingung der Fruchtbarkeit und des Verkehrs wird. Am
mächtigsten ist aber der Wasserabgang zur Zeit der heißen Föhnwinde
und warmen Regenniederschläge. Überall entstehen dann neue Wasser¬
adern. Kleine Kieselbäche werden zu trüben, tobenden Strömen; die
Abtropsbretter der Gletscher sind von hundert sprudelnden Rinnsalen
durchzogen. Wie viele Millionen Eimer Wassers das Rheinbett jede
Minute aus den Hochgebirgen entführt, mag man ahnen, wenn man
sich erinnert, daß zur Zeit der Schneeschmelze das 33 Quadratstunden
haltende Bodenseebecken 8 bis 10 Fuß steigt, im Jahre 1770 aber um
20 bis 24 Fuß sich gehoben hat. Bei manchen Strömen ist es schwer,
die eigentliche Quelle anzugeben, besonders wenn mehrere Büche von
ungefähr gleicher Stärke zusammentreffen und nicht eine Bachader als
Stamm des Flusses sich heraushebt. Doch gilt der Grundsatz, daß den
eigentlichen Quellbächen stets vor den bloßen Gletscherabflüssen der
Vorzug gegeben wird; jenen bezeigen die Alpenbewohner überhaupt
Verehrung, diesen Verachtung, da die wilden Gletscherwasser kalt, trübe,
rauh sind und für ungesund und entkräftend gelten, die lebendigen
Quellen aber rein, klar und so warm, daß sie selbst im Winter oft
eine grüne Vegetaüon an ihren Ufern erhalten.
Ist der Bergkamm, über den der Abfluß hinuntergeht, von steiler
Böschung, so wird der Bach zum Wassersturz, und da überhaupt gerade
das Grundgestell des Kalkgebirges die jähsten Felswände aufweist, so
sind so viele der schweizerischen Bergthäler äußerst reich an schönen
Wasserfällen. In allen höheren Revieren sieht man diese schwankenden
Schaumfäden an den Felsen hangen oder hört die jungen Bäche über
die großen Felsenstufen ihrer Schluchten herunterkommen; aber auch
in der niederen Bergregion hangen nach Hochgewittern oder in der
hohen Schneeschmelze die Kaskaden dutzendweise an allen Wänden,
verschwinden aber zum größten Teile wieder in der Hitze des Sommers.
Die echten, stehenden Wasserfälle aber, diese vielbewunderten Natur¬
schauspiele, zeigen in Formen und Farben und Tönen jeder eine aus¬
geprägte Eigentümlichkeit, ein eigenes Rauschen, eigentümliche Deko¬
rationen, Wassermassen, Beleuchtungen u. s. w. Der eine rauscht
melancholisch dumpf in einer grottenartigen Vertiefung mit starkem
Gewässer; er hat sich mit seinen feuchten Zähnen einen tiefen Kessel
ausgefressen, den er halb ausfüllt und halb durchsägt hat für seinen
Abfluß. Die untere Hälfte des Falles trifft nie ein Sonnenstrahl;
während die obere in der glühenden Abendbeleuchtung wie ein goldener
Lavastrom daherstürzt, stiebt die untere mit grauen Nebelgebilden, die
der eigene Luftzug phantastisch an dem Berge hinjagt, aus der trie¬
fenden Schlucht auf. Ein anderer Sturz ist tief im Fichtenwalde
verborgen; plötzlich öffnet sich dieser, und über der breiten Felswand
spannt der starke Bergbach zwei-, dreiteilig seine feuchten Gewänder
-aus. Ein anderer Fall hängt ganz in der Luft. Eine vorspringende
Schieferplatte weist die daherstürzenden Gewässer weit über den Felsen
hinaus. Die Wand ist hoch, der Bach kann feine Wellen nicht
zusammenhalten; sie lösen sich, wie beim Staubbach im Lauterbrunnen-
Hopf u. Paulliek, deutsches Leseb. I. 3. IO