Full text: [Abteilung 3 = Quarta, [Schülerband]] (Abteilung 3 = Quarta, [Schülerband])

Kerner: Goldner. 
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stand. Eines Abends ergötzten sich die Knaben auf dem Rückwege vom 
Vater mit Spielen im Walde, und da hatte sich Goldner vor allen so 
sehr im Spiele ereifert, daß er so hell aussah wie das Abendrot. „Laßt 
uns zurückgehen!" sprach der älteste; „es scheint dunkel zu werden". — 
„Seht da, der Mond!" sprach der zweite. Da kam es licht zwischen 
den dunkeln Tannen hervor, und eine Frauengestalt wie der Mond 
setzte sich aus einen der moosigen Steine, spann mit einer krystallenen 
Spindel einen lichten Faden in die Nacht hinaus, nickte mit dem Haupte 
gegen Goldner und sang: 
„Der weiße Fink, die goldne Ros', 
Die Königskron' im Meeresschoß". 
Sie hätte wohl noch weiter gesungen, aber ihr Faden riß, und sie erlosch 
wie ein Licht. Nun war es ganz Nacht; die Kinder faßte ein Grausen, 
sie sprangen mit kläglichem Geschrei, das eine dahin, das andere dort¬ 
hin, über Felsen und Klüfte, und verlor eins das andere. 
Wohl viele Tage und Nächte irrte Goldner in dem dicken Walde 
umher, fand aber weder einen seiner Brüder noch die Hütte seines Vaters 
noch sonst die Spur eines Menschen; denn es war der Wald gar dicht 
verwachsen, ein Berg über den andern gestellt und eine Kluft unter die 
andere. Die Brombeeren, welche überall umherrankten, stillten seinen 
Hunger und löschten seinen Durst, sonst wäre er gar jämmerlich gestorben. 
Endlich am dritten Tage, andere sagen gar erst am sechsten, wurde der 
Wald hell und immer heller, und da kam er zuletzt hinaus und auf 
eine schöne grüne Wiese. Da war es ihm so leicht um das Herz, und 
er atmete mit vollen Zügen die freie Luft ein. Auf der Wiese waren 
Garne ausgelegt; denn da wohnte ein Vogelsteller, der fing die Vögel, 
die aus dem Walde flogen, und trug sie in die Stadt zum Verkauf. 
Solch ein Bursche ist mir gerade vonnöten, dachte der Vogelsteller, als 
er Goldner erblickte, der auf der grünen Wiese nahe an den Garnen 
stand und in den weiten blauen Himmel hineinsah und sich nicht satt 
sehen konnte. Der Vogelsteller wollte sich einen Spaß machen; er zog 
seine Garne, und — husch! war Goldner gefangen und lag unter dem 
Garne gar erstaunt; denn er wußte nicht, wie das geschehen war. „So 
fängt man die Vögel, die aus dem Walde kommen," sprach der Vogel¬ 
steller laut lachend. „Deine roten Federn sind mir eben recht. Du bist 
wohl ein verschlagener Fuchs; bleib bei mir, ich lehre dich auch die 
Vögel fangen!" Goldner war gleich dabei. Ihm deuchte unter den 
Vögeln ein gar lustig Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben 
hatte die Hütte seines Vaters wiederzufinden. „Laß erproben, was du 
gelernt hast!" sprach der Vogelsteller nach einigen Tagen zu ihm. Goldner 
zog die Garne, und beim ersten Zuge fing er einen schneeweißen Finken. 
„Packe dich mit diesem weißen Finken!" schrie der Vogelsteller, „du 
hast es mit dem Bösen zu thun!" und so stieß er ihn gar unsanft von 
der Wiese, indem er den weißen Finken, den ihm Goldner gereicht 
hatte, unter vielen Verwünschungen mit den Füßen zertrat. 
Goldner konnte die AßM 
ging getrost wieder in 
Hopf u. Paulsiek, deutzMsLeseb. 1,3 
Isoic Forschuüf 
Bibliothek 
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ers nicht begreifen; er 
nahm sich noch einmal 
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