Full text: [Abteilung 3 = Quarta, [Schülerband]] (Abteilung 3 = Quarta, [Schülerband])

Brüder Grimm: Die Gänsehirtin am Brunnen. 
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kröne erscholl bald von Schiff zu Schiff und über das Meer weit in 
das Land hinein. Da war die goldene Fläche bald mit bunten Nachen 
bedeckt und mit Schiffen, die mit Blumen und Laubwerk geziert waren; 
diefe begrüßten alle mit lautem Jubel das Schiff, auf welchem der 
König Goldner stand. Er stand, die Helle Krone auf dem Haupte, am 
Vorderteile des Schiffes und fah ruhig der Sonne zu, wie sie im 
Meere erlosch. 
20. Die Gänsehirtin am Brunnen. 
Von den Brüdern Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Göttingen, 1843. 
Es war einmal ein steinaltes Mütterchen, das lebte mit feiner 
Herde Gänse in einer Einöde zwischen Bergen und hatte da ein kleines 
Haus. Die Einöde war von einem großen Wald umgeben, und jeden 
Morgen nahm die Alte ihre Krücke und wackelte in den Wald. Da 
war aber das Mütterchen ganz geschäftig, mehr, als man ihm bei seinen 
hohen Jahren zugetraut hätte, sammelte Gras für seine Gänse, brach 
sich das wilde Obst ab, so weit es mit den Händen reichen konnte, 
und trug alles auf seinem Rücken heim. Man hätte meinen sollen, die 
schwere Last müßte die Alte zu Boden drücken, aber sie brachte sie 
immer glücklich nach Haus. Wenn ihr jemand begegnete, so grüßte sie 
ganz freundlich: „Guten Tag, lieber Landsmann, heute ist schönes 
Wetter. Ja, Ihr wundert Euch, daß ich das Gras schleppe, aber jeder 
muß seine Last auf den Rücken nehmen". Doch die Leute begegneten 
ihr nicht gerne und nahmen lieber einen Umweg, und wenn ein Vater 
mit seinem Knaben an ihr vorüberging, so sprach er leise zu ihm: 
„Nimm dich in Acht vor der Alten, die hat's faustdick hinter den 
Ohren; es ist eine Hexe". 
Eines Morgens ging ein hübscher junger Mann durch den Wald, 
Die Sonne schien hell, die Vögel sangen, ein kühles Lüftchen strich 
durch das Laub, und er war voll Freude und Lust. Noch war ihm 
kein Mensch begegnet, als er Plötzlich die alte Hexe erblickte, die am 
Boden auf den Knieen saß und Gras mit einer Sichel abschnitt. Eine 
ganze Last hatte sie schon in ihr Tragtuch geschoben, und daneben 
standen zwei Körbe, die mit wilden Birnen und Äpfeln angefüllt 
waren. „Aber, Mütterchen," sprach er, „wie kannst du das alles fort¬ 
schaffen?" — „Ich muß es tragen, lieber Herr," antwortete sie, „reicher 
Leute Kinder brauchen es nicht. Aber beim Bauer heißt's: 
Schau' dich nicht um! 
Dein Buckel ist krumm. 
Wollt Ihr mir helfen? Ihr habt noch einen geraden Rücken und 
junge Beine, es wird Euch ein Leichtes sein. Auch ist mein Haus 
nicht so weit von hier; hinter dem Berge dort steht es aus 
einer Heide. Wie bald seid Ihr da hinaufgesprungen!" Der junge 
Mann empfand Mitleiden mit der Alten. „Zwar ist mein Vater kein 
Bauer," antwortete er, „sondern ein reicher Graf, aber damit Ihr 
sehet, daß die Bauern nicht allein tragen können, so will ich Euer
	        
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