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VI. Bildende Kunst.
Das Äußere des gotischen Doms zeigt fast unverhüllt das kon¬
struktive Gerüst: die Strebepfeiler, zwischen ihnen unten die Fenster
der Seitenschiffe, oben die Strebebogen und die Fenster des überhöhten
Mittelschiffs, endlich das hohe, spitzgiebelige Dach. Die Strebepfeiler
verjüngen sich in Absätzen; unten sind sie massiger gebildet, oben, wo
sie über die Dächer der Seitenschiffe frei in die Äöhe steigen, sind sie
reicher gegliedert und mit kleinen Türmchen, sogenannten Fialen, be¬
krönt, die Kreuzblume und Krabben tragen. Dieselbe Verzierung sieht
man an den Wimpergen, den zweischenkligen Spitzgiebeln, die als Be¬
krönung der Portale und Oberfenster dienen, überall wird die senk¬
rechte Linienführung scharf betont, die wagerechte fast verleugnet; je
weiter nach oben, desto mehr wird die schwere Masse des Steins durch¬
brochen und endlich in die zartesten Zacken und Spitzen aufgelöst. Diese
beiden Grundgedanken des Äußeren kommen besonders an dem Turm¬
bau zur Geltung. Außer dem kleineren Dachreiter über der Vierung
hat die gotische Kirche zwei Türme oder nur einen an der Westseite.
Zm romanischen Stil erscheinen die Türme als bloße Anbauten; hier
sind sie so eins mit der Kirche, daß sie in ihren unteren Geschossen die
Fassade bilden, die sich in mächtigen Portalen mit trichterförmig ge¬
stellten Laibungen einladend öffnet. Mit gewaltigen, vielgegliederten
Strebepfeilern an den Ecken steigen die Türme empor, fast ganz von
Fenstern durchbrochen. In der Höhe des Daches lösen sie sich vom
Körper der Kirche und trennen sich voneinander, jeder immer noch vier¬
eckig. Dann springen sie- in ein Achteck über, indem die Strebepfeiler
an den vier Ecken frei in Fialen auslaufen. Zwischen den Wimpergen
der hohen Fenster des Oktogons setzen die Äelme ein, ganz aus durch¬
brochenem Stab- und Maßwerk gebildet. G. War necke.
62. Die Frührenaissance.
Llm 1400 begann die Renaissance, die Wiedergeburt der Künste,
im Gefolge des Humanismus, jener wunderbaren geistigen Strömung,
die einen wahren Völkerfrühling für Europa heraufgeführt hat. Italien
ist das Mutterland, Florenz die Mutterstadt der neuen Kultur. Nicht
die Antike allein, sondern ihr enges Bündnis mit dem italienischen '
Volksgeist hat die Keime der modernen Bildung ans Licht gebracht.
Wie im allgemeinen den Renaissancemenschen die völlige Wieder¬
herstellung der griechisch-römischen Kultur als Ideal vorschwebte, so
glaubten auch die Architekten zunächst an eine mögliche Wiedergeburt
der griechischen Bauweise. Dieser schöne Traum mußte bald ver-