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B. Lyrische Poesie.
Rühret sie nicht fremder Schmerz;
Doch der Menschheit Angst und
Wehen
Fühlet mein gequältes Herz.
7. Daß der Mensch zum Menschen
werde,
Stift' er einen ew'gen Bund
Gläubig mit der frommen Erde,
Seinem mütterlichen Grund,
Ehre das Gesetz der Zeiten
Und der Monde heil'gen Gang,
Welche still gemessen schreiten
Zm melodischen Gesang!"
8. Und den Nebel teilt sie leise.
Der den Blicken sie verhüllt;
Plötzlich in der Wilden Kreise
Steht sie da, ein Götterbild.
Schwelgend bei dem Siegesmahle
Findet sie die rohe Schar,
Und die blutgefüllte Schale
Bringt man ihr zum Opfer dar.
9. Aber schaudernd, mit Entsetzen
Wendet sie sich weg und spricht:
„Blut'ge Tigermahle netzen
Eines Gottes Lippen nicht.
Reine Opfer will er haben,
Früchte, die der Herbst beschert.
Mit des Feldes frommen Gaben
Wird der Heilige verehrt."
10. Und sie nimmt die Wucht des
Speeres
Aus des Jägers rauher Hand;
Mit dem Schaft des Mordgewehres
Furchet sie den leichten Sand,
Nimmt von ihres Kranzes Spitze
Einen Kern, mit Kraft gefüllt.
Senkt ihn in die zarte Ritze,
Und der Trieb des Keimes schwillt.
11. Und mit grünen Halmen
schmücket
Sich der Boden alsobald,
Und soweit das Auge blicket,
Wogt es wie ein goldner Wald.
Lächelnd segnet sie die Erde,
Flicht der ersten Garbe Bund,
Wählt den Feldstein sich zum Herde,
Und es spricht der Göttin Mund:
12. „Vater Zeus, der über alle
Götter herrscht in Äthers Höhn,
Daß dies Opfer dir gefalle.
Laß ein Zeichen jetzt geschehn!
Und dem unglücksel'gen Volke,
Das dich. Hoher, noch nicht nennt.
Nimm hinweg des Auges Wolke,
Daß es seinen Gott erkennt!"
13. Und es hört der Schwester
Flehen
Zeus auf seinem hohen Sitz;
Donnernd aus den blauen Höhen
Wirft er den gezackten Blitz.
Prasselnd fängt es an zu lohen.
Hebt sich wirbelnd vom Altar,
Und darüber schwebt in hohen
Kreisen sein geschwinder Aar.
14. Und gerührt zu der Herrscherin
Füßen
StürztsichderMengefreudig Gewühl,
Und die rohen Seelen zerfließen
In der Menschlichkeit erstem Gefühl,
Werfen von sich die blutige Wehre,
Öffnen den düster gebundenen Sinn
Und empfangen die göttliche Lehre
Aus dem Munde der Königin.
15. Und von ihren Thronen steigen
Alle Himmlischen herab,
Themis selber führt den Reigen
Und mit dem gerechten Stab
Mißt sie jedem seine Rechte,
Setzet selbst der Grenze Stein,
Und des Styx verborgne Mächte
Ladet sie zu Zeugen ein.
16. Und es kommt der Gott der Esse,
Zeus' erfindungsreicher Sohn,
Bildner künstlicher Gefäße,
Hochgelehrt in Erz und Thon.
Und er lehrt die Kunst der Zange
Und der Blasebälge Zug;
Unter seines Hammers Zwange
Bildet sich zuerst der Pflug.
17. Und Minerva, hoch vor allen
Nagend mit gewicht'gem Speer,
Läßt die Stimme mächtig schallen
Und gebeut dem Götterheer.
Felle Mauern will sie griinden.