591
Zweites Buch.
Rhetorisch.
I. Aie Aede.
A. Paränetisch.
92. Tast Vorzüge des Geistes ohne sittliche Gesinnungen
keinen Werth haben.*
(Predigt.)
Man nennt unser Zeitalter das aufgeklärte und spricht viel von
großen Fortschritten, welche alle Abtheilungen der Gesellschaft in der
Bildung des Geistes, in der Berichtigung und Erweiterung ihrer Ein¬
sichten sollen gemacht haben; und wie mißlich es auch, näher betrachtet,
um diese Fortschritte stehen mag, so viel kann wenigstens nicht geleugnet
werden, daß das allgemeine Bestreben nach dieser Seite hin gerichtet
ist. Wissenschaften und Künste werden auf allerlei Geschäfte des Lebens
fleißiger und scharfsinniger angewendet als sonst; alle Gewerbe entfernen
sich. mehr und mehr von der Sklaverei alter Gewohnheiten, man forscht
darin nach Gründen, und findet auf diese Weise Verbesserungen;
Beobachtung der Natur und des Menschen sucht den Aberglauben in
allen seinen Schlupfwinkeln auf; Untersuchungen und Mittheilungen
über den Zusammenhang großer Ereignisse und über die allgemeinen
Angelegenheiten der Menschen finden immer mehr aufmerksame Ohren;
und mildere Sitten, welche sich unter allen Ständen verbreiten und
sie einander näher bringen, machen zugleich das Gemüt urbar, um den
Samen jeder Erkenntniß aufzunehmen und auch solchen Wahrheiten
Gedeihen zu sichern, die ursprünglich in andern Gegenden der geselligen
Welt einheimisch sind. Dies alles ist kein geringer Ruhm; aber leider
ist mit diesen Fortschritten sehr allgemein der große Nachtheil verbunden,
daß der Verstand und die Bildung desselben auch unabhängig von der
Gesinnung geschätzt und viel zu hoch geschätzt wird. Sich in seinen
Berufsgeschäften durch Geschicklichkeit und verständige Benutzung alles
fremden und neuen auszeichnen, auch jenseits derselben über alle ge¬
meinen menschlichen Dinge eine eigene und begründete Meinung haben,
im Kreise der Gesellschaft durch Munterkeit und Gewandtheit des Geistes
gefallen, durch ein scharfes Urtheil sich Ansehen erwerben, durch funkeln¬
den Witz blenden — das ist jetziger Zeit das Bild der Vollkommenheit,
das ist das einzige Mittel, um geliebt, geschätzt und bewundert zu werden.
Seid daneben rechtschaffen und treu, man wird dessen nur im vorbei¬
gehen erwähnen: besitzt diese Tugenden ohne jene Vollkommenheiten
des Verstandes, so bleibt ihr ganz unbemerkt im Hintergründe stehen.
Die einfältige Redlichkeit, wie aufrichtig und thätig sie auch sei, gilt
nichts; Verstand und Talente, das ist die allgemeine Losung. Ich bin
* Friedrich Ernst Daniel Tchleicrmacher.
5
10
15
20
25
30