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Weit entfernt auf das, was man so gemeinhin ein gutes Herz nennt,
großen Werth zu legen. Die Bereitwilligkeit, mit andern und für sie
zu empfinden, sich zum Werkzeuge von ihnen gebrauchen zu lassen, und
sich an alles, was in ihnen gut und groß zu sein scheint, bewunderungs-
5 voll anzuschließen, ist etwas sehr zweideutiges, und oft nichts anderes,
als Leerheit des eigenen Sinnes, Unfähigkeit selbst etwas zu wollen,
Gefühl des Bedürfnisses, sich von andern leiten und stoßen zu lassen.
Aber ohne einen wahrhaft guten Willen, ohne eine echt sittliche Ge¬
sinnung, ohne die feste und immer thätige Richtung aller Kräfte auf
10 das selbsterkannte Gute, ohne treuen Gehorsam gegen die göttlichen
Gesetze sind alle jene Vorzüge des Geistes, und wenn ihr sie bis zum
höchsten Gipfel der Vollendung ausgearbeitet hättet, nichts, gar nichts;
dagegen diese gute Gesinnung, die freilich unausbleiblich allemal mit
dem Bestreben verbunden ist, alle Anlagen, welche wir von Gott em-
I5pfangen haben, aufs beste zu benutzen, wenn sie auch durch ungünstige
Umstände gehindert wird, sich in die höhern Kreise der Bildung hin¬
aufzuschwingen und sich mit mancherlei Vorzügen auszuschmücken, den¬
noch überall denselben alles andere verdunkelnden Werth behält. Das
ist meine Ueberzeugung, welche ich gern durch den folgenden Vortrag
20 in euch allen hervorbringen oder noch lieber nur erneuern und be¬
festigen möchte.
Text: 1. Kor. 12, 31. — 13, 1.
Strebet aber nach den besten Gaben, und ich will euch noch
einen köstlicheren Weg zeigen. Wenn ich mit Menschen- und mit
85 Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein
tönend Erz oder eine klingende Schelle.
In der Gemeine, an welche dieser Brief gerichtet ist, war über
einen an sich löblichen Gegenstand ein Wetteifer entstanden, der der
brüderlichen Eintracht nachtheilig war. Jeder suchte durch die Gaben,
30 welche ihm die göttliche Gnade verliehen hatte, zur Erbauung der Ge¬
meine oder zu ihrer Verherrlichung unter den Ungläubigen etwas bei¬
zutragen. Dieser Eifer für das allgemeine Wohl war aber nicht un¬
verfälscht. Jeder wollte sein Talent für das vorzüglichste gehalten
wissen; man verglich und sorschte, welches unter allen wohl den meisten
35 Glanz auf den Besitzer zurückwerfe, und so mischte sich auf allen Seiten
Stolz, Eigendünkel und Eifersucht ein. Der Apostel ertheilt deshalb
seinen Lesern zuerst die Lehre, daß ein Talent, welches nicht zum Wohl
der Gemeine beiträgt, auch nichts ehrenvolles sein kann, und geht dann
in den Worten unseres Textes zu der allgemeinen Weisung über, daß
40 sie sich überhaupt nicht auf den richtigen Gesichtspunkt gestellt hätten,
um ihren Werth zu beurtheilen. Er sagt, wenn sie sich auch alle der
herrlichsten Gaben befleißigten, so gebe es doch noch etwas köstlicheres,
nemlich die wahrhaft tugendsame, sittliche Gesinnung, der er hernach
unter dem Namen der Liebe die bekannte, so beredte und begeisterte
45 Lobrede hält. Diesen Ausspruch laßt uns jetzt besonders auf dasjenige
anwenden, was in unsern Tagen so auszeichnend geschätzt wird; laßt
uns bedenken,
daß alle Vorzüge des Geistes, getrennt von einer sittlichen und
würdigen Gesinnung, gar keinen Werth haben.
50 Ich werde dies deutlich zu machen suchen, indem ich zeige: erstlich,
daß aus ihnen für sich kein gegründeter Anspruch auf unsere Achtung
entsteht; zweitens, daß sie sich mit Recht unsere Zuneigung nicht