Ruch feierliche Rechtshandlungen waren von Dichtung begleitet.
Der Eid wurde in stabreimenden Versen geschworen. Der verbannungs-190
fluch ward in stabreimender Form gesprochen. Der Schuldige soll land-
flüchtig und vertrieben sein, so weit Menschen landflüchtig sein können,
so weit Feuer brennt und Erde grünt, Rind nach der Mutter schreit,
soweit Schiff schreitet, Schild blinket, Sonne den Schnee schmilzt,
Feder fliegt, Fohre wächst, Habicht fliegt den langen Frühlingstages
und der Wind steht unter seinen beiden Flügeln, soweit Himmel sich
wölbt, Welt gebaut ist, winde brausen und die Wasser zur See hin¬
strömen.
Das ganze rechtliche Formelwesen überhaupt war vom Stabreim
durchdrungen. Und zweigliedrige Rusdrücke mit gleichem Rnfangslaut 200
der Hauptsilben wie Ligen und Erbe, Bank und Bette, Friede und
Freundschaft, herz und Hand, Haus und Hof, haut und haar, Land
und Leute, Leib und Leben, Nacht und Nebel, Nutz und Not, See
und Sand, Wonne und weide, wind und Wetter sind zum Teil auch
für uns noch nicht verklungen. 205
Um alles zusammenzufassen: wo irgend der alte Germane sich
aus sich selbst besinnt und sein einzelnes Dasein anknüpft an das
große Ganze, wo irgend seine Seele sich erhebt, sein Gemüt sich er¬
weitert, seinen Geist einen überschauenden Flug nimmt, da wird die
Dichtkunst seine Gefährtin. 210
Sie begleitet ihn auch hinüber in die hohe Politik, in bewegte
Jahre voll unverwelklichen Ruhmes, in Taten, die die Welt um¬
gestaltet und durch ihren Eindruck aus den Geist des Volkes selbst,
durch ihre Verschmelzung mit den Trümmern der heidnischen Religion
einen reichen Schatz der Schönheit unserm geschichtlichen Leben ein-215
gepflanzt haben, der wie die Schätze der Sage zuweilen allerdings
in die Tiefe sinkt, zur bestimmten Zeit aber aus eigner Rraft still
nach oben rückt und eine kurze Stunde wartet, ob ihn unschuldige
Hände schweigend heben. Das Volk sagt dann von ihm wie vom
Glücke: er blühe. Wilhelm Scherer. ^20
34. Ursprung und Begriff der deutschen ßeldenicige.
<^eldensage und Heldensang sind so enge miteinander verbunden,
* j daß eine Darstellung der Entstehung und Entwicklung der
^ i Heldensage mit jener des Heldensanges zusammenfällt, von
den ältesten Nachrichten über germanische Dichtung muß daher aus¬
gegangen werden, will man den Rnfängen der Heldensage nahe kommen. 5