Full text: [Teil 8 = 9. Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 8 = 9. Schuljahr, [Schülerband])

3. Feststehende Charaktere. 
Die Eigentümlichkeiten eines ganzen Volkes pflegt die Dichtung 
um einzelne zu versammeln, so daß, was in der Menge zerstückt, 
schwach oder unbestimmt sich zeigt, gesteigert und zu einem Ganzen 
vereinigt wird,- man könnte sagen, sie ließ uns nur vollständige 
Sund in Farben ausgemalte Beispiele sehen. Stellt ein solcher Cha¬ 
rakter zwar das Gemeinsame dar, so tritt er zugleich als eine scharf 
gezeichnete, für sich in ihrer Besonderheit lebende Gestalt aus,- vor¬ 
züglich erscheinen im Komischen, weil es so viel Eckiges und hervor¬ 
springendes hat, gleich feststehende Masken. Überhaupt aber, je 
10 mehr solche Charaktere aus die Natur eines Volkes, seine Tugenden 
und Schwächen sich gründen, desto bleibender und unvergänglicher 
werden sie auch sein und nach allen äußerlichen verändrungen jedes¬ 
mal frisch sich herausbilden, welches Epos hätte nicht als Helden 
einen Uchill und Odysseus, im Humor und Scherz seinen Lalenbürger 
iS und Eulenspiegel. Es sind die natürlichen formen und Grenzen 
der Dichtkunst, innerhalb derer sie sich mit aller Freiheit und 
Mannigfaltigkeit bewegen kann. Siegfrieds eigentümlicher, die 
deutsche Natur vorzugsweise bezeichnender Charakter hat einen ge¬ 
wissen Unklang von einem andern, der hier oft vorkommt und der 
20 Dümmling genannt wird. In der Jugend zurückgesetzt, zu allen 
Dingen, wozu Witz und Gefügsamkeit gehören, ungeschickt, muß er 
gemeine Arbeiten verrichten (wie Siegfried das Schmiedehandwerk 
treibt) und Spott erdulden,- er ist das Uschenkind, das am Herde 
oder unter der Treppe feine Schlafstätte fyat; aber es leuchtet dabei 
25eine innere Freudigkeit und eine höhere Kraft durchs schön wird er 
im parzival der Dummeklare genannt. Kommt es dann zur leben¬ 
digen Tat, so erhebt er sich schnell wie eine lange keimende, endlich 
vom Sonnenlicht berührte Pflanze, und dann vermag er allein unter 
vielen das Ziel zu erreichen. Er ist hier unter verschiednen verhält- 
30 nissen dargestellt; gewöhnlich der jüngste von drei Brüdern, stehn 
ihm die beiden andern in Stolz und Hochmut entgegen; wenn sie 
zusammen ausgeschickt werden, um eine Aufgabe zu lösen, wonach 
der Vorzug unter ihnen bestimmt werden soll, verlachen ihn jene 
und sehen ihn mit Verachtung an. Der Dümmling aber zieht in 
35 kindlichem vertrauen aus, und wenn er sich ganz verlassen glaubt, 
hilft eine höhere Macht und gibt ihm den Sieg über die andern. 
Unterliegt er der Mißgunst und wird ermordet, so verkündigt doch 
lange nachher der weißgebleichte, hervorgespülte Knochen die Untat, 
damit sie nicht-unbestraft bleibe.
	        
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