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115. Karl V.
Wenn die alle Sage ihre Helden schildert, gedenkt sie zu¬
weilen auch solcher, die erst eine lange Jugend hindurch untätig
zu Hause sitzen, aber alsdann, nachdem sie sich einmal erhoben,
nie wieder ruhen, sondern in unermüdlicher Freudigkeit von Unter¬
nehmung zu Unternehmung fortgehen. Erst die gesammelte Kraft
findet die Laufbahn, die ihr angemessen ist.
Man wird Karl V. mit einer solchen Natur vergleichen können.
Bereits in seinem sechzehnten Jahre war er zur Regierung be¬
rufen; doch fehlte viel, daß er in seiner Entwicklung dahin ge¬
wesen wäre, sie zu übernehmen. Lange war man versucht, einen
Spottnamen, den sein Vater gehabt, weil er seinen Räten allzuviel
glaubte, auch auf ihn zu übertragen. Sein Schild führte das Wort:
„Noch nicht." Selbst während seine Heere Italien unterwarfen
und wiederholte Siege über die tapfersten Feinde davontrugen,
hielt man ihn, der indes ruhig in Spanien saß, für unteilnehmend,
schwach und abhängig. Man hielt ihn so lange dafür, bis er im
Jahre 1529, im dreißigsten seines Lebens, in Italien erschien.
Wieviel anders zeigte er sich da, als man erwartete! Wie zu¬
erst so ganz sein eigen und vollkommen entschieden! Sein geheimer
Rat hatte nicht gewollt, daß er nach Italien ging, hatte ihn vor
Johann Andrea Doria gewarnt und ihm Genua verdächtig ge¬
macht. Man erstaunte, daß er dennoch nach Italien ging, daß
er gerade auf Doria sein Vertrauen setzte, daß er dabei blieb, in
Genua ans Land steigen zu wollen. So war er durchaus. Man
nahm keinen überwiegenden Einfluß eines Ministers wahr; an
ihm selber fand man weder Leidenschaft noch Übereilung, sondern
alle seine Entschlüsse waren gereift; es war alles überlegt; sein
erstes Wort war sein letztes.
Dies bemerkte man zuerst an ihm; darauf, wie selbsttätig,
wie arbeitsam er war. Es erforderte einige Geduld, die langen
Reden der italienischen Gesandten anzuhören; er bemühte sich, die
verwickelten Verhältnisse ihrer Fürsten und Mächte genau zu fassen.
Der venezianische Botschafter wunderte sich, ihn um nicht weniges
zugänglicher und gesprächiger zu finden, als er drei Jahre zuvor