C. Aus der Blütezeit der deutschen
Literatur.
166. Walter von der Bogelweide.
In der Reihe lebendiger Dichtercharaktere, die aus dem
deutschen Mittelalter hervorgegangen sind, nimmt Walter von
der Vogelweide eine der ersten, unter den Liederdichtern die oberste
Stelle ein. Diesen hohen Rang haben ihm seine Zeitgenossen freu¬
digen Herzens eingeräumt: bereitwillig und neidlos reichten sie
ihm den dichterischen Ehrentranz dar, indem sie ihn nach dem
Tode Reimars des Alten für den Würdigsten erklärten, An¬
führer und Bannerträger der Sängerschar zu sein. So Gottfried
von Straßburg, er selbst der Ersten einer, in jener wundervollen
Stelle des „Tristan", wo er das Verstummen der Nachtigall von
Hagenau beklagt.
Aber auch der Nachruhm fehlte Walter nicht. Von den Dichtern
der nächstfolgenden Zeit als ihr Haupt und Vorbild betrachtet
und gepriesen, lebte sein Andenken, obwohl vielfach verdunkelt
und sagenhaft entstellt, durch alle Jahrhunderte, in den Meister¬
sängerschulen sogar bis zu deren Erlöschen, fort, und die Gegen¬
wart, vor deren Augen der Fleiß unserer Gelehrten seine Werke
im alten Glanze neu wieder hat aufleben lassen, hat nicht ge¬
zögert, das Urteil der Geschichte in seinem vollen Umfang zu
bestätigen.
In der Tat haben wir allen Grund, Walter vor anderen
hoch und wert zu halten; steht er doch seinem inneren Wesen
und seiner ganzen Richtung nach dem lebenden Geschlecht, seinem
Denken und Empfinden näher als irgend ein Dichter der Vorzeit.
Die Gedanken und Anschauungen, die den Geist und die Seele
dieses großen Mannes erfüllten und in seinen Liedern Leben und
Gestalt empfingen, sind fast dieselben, die noch jetzt die Gemüter
der Deutschen bewegen und durchglühen. Allerdings hat auch er,
nicht unempfindlich gegen die zarten Regungen des Herzens, der
Sitte der Zeit gemäß feine Muse und seinen Dienst jenem rätsel-