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ein solches, in dem das eigene Leben und Streben als ein aus
ihm Erzeugtes unverlierbar gehegt und getragen werde. Gefühle
von dieser Art machen den eigentlichen Herzschlag der Religion
aus. Die Vorstellungen, worin sie sich kleidet, die begrifflichen
Formeln, worin Philosophen und Theologen die Vorstellungen
zu fassen suchen, sind das Zufällige und Vergängliche an der
Religion. Der Wert der Vorstellungen und Begriffe liegt darin,
daß sie als Symbole, in denen das Gefühl gegenständlich wird,
Gemeinschaft und Mitteilung des religiösen Lebens ermöglichen:
und nur in der Gemeinschaft eines dauernden Volkslebens ist
überhaupt Religion möglich; der Einzelne hat an ihr Teil wie
an Sprache und Dichtung, an Sitte und Recht. — Übrigens
sind in dieser Absicht begriffliche Formeln nie das Wirksamste
gewesen; wichtiger waren stets als Träger und Erreger des reli¬
giösen Lebens die Kunst, nach Goethe die Vermittlerin des Un¬
aussprechlichen, und der Kult, mit dem jene aufs innigste ver¬
schmolzen auftritt; sie haben die Aufgabe, die Beziehung des
Menschen zum Übersinnlichen und Überbegrifflichen auf sinnlich-
sichtbare Weise anzudeuten.
Ich glaube nun, daß derartige Gefühle zu den unverlierbaren
Eigenheiten der menschlichen Natur gehören. Die Formen, in die
sie sich kleiden, mögen auch in der Zukunft sich wandeln, das Wesen
wird bleiben. Wie immer wissenschaftliche Forschung die Vorstellung
von der Wirklichkeit ausbauen mag, für das religiöse Gefühl
wird stets Raum bleiben. Religion wird nie aussterben; sie ent¬
spricht zu sehr dem innersten und tiefsten Bedürfnis des mensch¬
lichen Gemüts. Es bedarf im Glück, um nicht in Übermut
und Verblendung unterzugehen, des Aufblicks zu dem Höheren,
in dem es mit Freude und Dank ausdrückt, daß es sein Glück
nicht als verdienten Lohn, sondern als freie Gabe hinnimmt; es
bedarf im Untergang seiner Hoffnungen und Pläne des Hinblicks
darauf, daß die irdischen Dinge nicht von absoluter Bedeutung
sind; es bedarf in der absoluten Ungewißheit aller menschlichen
Dinge und der tiefen Unwissenheit über die eigene Zukunft, um
nicht einem haltlos umtreibenden Aberglauben anheimzufallen, der
Zuversicht, daß, was immer kommen möge, ihm zum Heile ge¬
schickt sei; es ist sicher nicht Zufall, daß, wo dieser Glaube zurück¬
weicht, der Aberglaube sich ausbreitet.