Full text: [Teil 4, [Schülerband]] (Teil 4, [Schülerband])

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Darstellungen aus Geschichte und Kulturgeschichte. 
Scharlach und Zobel; ich habe sie in einer nahen Schlucht versteckt, die will 
ich ihr zur Morgengabe geben? Um das alles, Gotelind, bist du durch deines 
Vaters Schuld gekommen; jetzt nimmt dich ein Bauer, bei dem du Rüben 
graben mußt." 
Und die törichte Schwester sagte: „Lieber Bruder Schlingdengau, mache, 
daß mich dein Geselle heiratet! Ich verlasse Vater, Mutter und Verwandte." 
Die Eltern vernahmen nicht die Rede, der Bruder beriet heimlich mit der Schwester. 
„Ich will dir meinen Boten senden, dem du folgen sollst; halte dich bereit! 
Gott behüte dich, ich ziehe dahin; der Hauswirt hier gilt mir so wenig als ich 
ihm. Mutter, Gott segne dich!" So fuhr er seinen alten Strich und sagte 
seinem Gesellen den Willen der Schwester. Der küßte sich vor Freuden die 
Hand und verbeugte sich vor dem Winde, der von Gotelind herweht. 
Manche Witwe und Waise ward ihres Gutes beraubt, da der Held Lämmer- 
schling und sein Gemahl Gotelind auf dem Brautstuhl saßen. Die Knappen 
fuhren und trieben auf Wagen und auf Rossen emsig gestohlenen Trank und 
Speise in Lämmerschlings Vaterhaus. Als Gotelind aber kam, ging der Bräutigam 
ihr entgegen und empfing sie: „Willkommen. Dame Gotelind!" — „Gott lohne 
Euch, Herr Lämmerschling!" So begrüßten sie einander freundlich und ein alter 
Mann, weise in Worten, stand aus und stellte beide in einen Ring und fragte 
dreimal den Mann und die Magd: „Wollt ihr euch zur Ehe nehmen, so sprechet 
Ja!" So gab er sie zusammen. Alle sangen das Brautlied, der Bräutigam 
trat der Braut auf den Fuß. Darauf wurde das Hochzeitmahl bereitet. Aber 
seltsam war es, vor den Knaben schwand die Speise, als wenn sie ein Wind 
vom Tische wehte; sie aßen unendlich, was ihnen der Truchseß von der Küche 
- auftrug, und es blieb nicht so viel daran, daß der Hund die Knochen abnagen 
tonnte. Man sagt, jedem Menschen, der so unmäßig ißt, dem naht sein EndeZ. 
Der Braut Gotelind begann zu grausen und sie klagte: „Wehe, uns naht ein 
Unheil; mir ist das Herz so schwer! Wehe mir, daß ich Vater und Mutter 
verlassen habe! Wer zu viel will, dem wird wenig; diese Gierigkeit führt in den 
Abgrund der Hölle." 
Noch eine Weile saßen sie nach dem Essen; schon hatten die Spielleute 
von Braut und Bräutigam ihre Gabe empfangen, da sah man den Richter mit 
fünf Männern kommen. Es war ein kurzer Kampf, mit den Fünfen siegte der 
Richter über zehn; denn ein rechter Dieb, wie kühn er auch sei und schlüge er 
-auch ein ganzes Heer, ist wehrlos gegen die Schergen. Die Räuber schlüpften 
in den Ofen und unter die Bank; wer sonst nicht vor Vieren floh, den zog jetzt 
der Knecht des Schergen allein bei seinem Haare hervor. Den Dieben aber 
wurden die Häute der Rinder, die sie geraubt, an den Hals gebunden als der 
Gewinn für den Richter. Der Bräutigam trug seinem Tage zu Ehren nur zwei, 
die andern aber mehr. Der Scherge hing neune, den zehnten ließ er am Leben 
*) Uralter Volksglaube. Ähnlich die Freier in der Odyssee vor ihrem Ende.
	        
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