Full text: [Teil 4, [Schülerband]] (Teil 4, [Schülerband])

Märchen. 
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immer geklagt und gebarmt x) und dir alles mögliche gewünscht und jetzt, wo du's 
haben kannst, wie du's willst, plagst und schindest du dich, bist mit allem zufrieden 
und läßt die schönsten Jahre vergehen. König, Kaiser, Graf. ein großer, dicker 
Bauer könntest du sein, alle Truhen voll Geld haben — und kannst dich nicht 
entschließen, was du wählen willst." 
„Laß doch dein ewiges Drängen und Treiben", erwiderte der Bauer. „Wir 
sind beide noch jung und das Leben ist lang. Ein Wunsch ist nur in dem 
Ringe und der ist bald vertan. Wer weiß, was uns noch einmal zustößt, wo 
wir den Ring brauchen? Fehlt es uns denn an etwas? Sind wir nicht, seit 
wir den Ring haben, schon so herauf gekommen, daß sich alle Welt wundert? 
Also sei verständig! Du kannst dir ja mittlerweile immer überlegen, was wir 
uns wünschen könnten." 
Damit hatte die Sache vorläufig ein Ende. Und es war wirklich, als wenn 
mit dem Ringe der volle Segen ins Haus gekommen wäre; denn Scheuern und 
Kammern wurden von Jahr zu Jahr voller und voller und nach einer längeren 
Reihe von Jahren war aus dem kleinen, armen Bauer ein großer, dicker Bauer 
geworden, der den Tag über mit den Knechten schaffte und arbeitete, als wollte 
er die ganze Welt verdienen, nach der Vesper aber behäbig und zufrieden vor 
der Haustüre saß und sich von den Leuten guten Abend wünschen ließ. 
So verging Jahr um Jahr. Dann und wann, wenn sie ganz allein waren 
und niemand es hörte, erinnerte zwar die Frau ihren Mann immer noch an den 
Ring und machte ihm allerhand Vorschläge. Da er aber jedes Mal erwiderte, 
es habe noch vollauf Zeit und das Beste falle einem stets zuletzt ein, so tat sie 
es immer seltener und zuletzt kam es kaum noch vor, daß auch nur von dem Ringe 
gesprochen wurde. Zwar der Bauer selbst drehte den Ring täglich wohl zwanzig 
Mal am Finger um und besah sich ihn, aber er hütete sich einen Wunsch dabei 
auszusprechen. 
Und dreißig und vierzig Jahre vergingen und der Bauer und seine Frau 
waren alt und schneeweiß geworden. Der Wunsch aber war immer noch nicht 
getan. Da erwies ihnen Gott eine Gnade und ließ sie beide in einer Nacht 
selig sterben. 
Kinder und Kindeskinder standen um ihre beiden Särge und weinten, und 
als eins von ihnen den Ring abziehen und aufheben wollte, sagte der älteste Sohn: 
„Laßt den Vater seinen Ring mit ins Grab nehmen! Er hat sein Lebtag 
seine Heimlichkeit mit ihm gehabt. Es ist wohl ein liebes Andenken. Und die 
Mutter besah sich den Ring auch so oft; am Ende hat sie ihn dem Vater in 
ihren jungen Tagen geschenkt." 
So wurde denn der alte Bauer mit dem Ringe begraben, der ein Wunsch¬ 
ring sein sollte und keiner war und doch so viel Glück ins Haus gebracht hatte, 
als ein Mensch sich nur wünschen kann. Denn es ist eine eigene Sache mit dem, 
*) barmen: in Sachsen und Thüringen — kläglich tun (lamentari).
	        
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