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Wernicke: Ariovist.
äußerste Bedrängnis gebracht hätte, wenn ihm nicht das Schicksal gerade
einen Cäsar gegenüberstellte.
Ariovist erscheint als ein echter deutscher Heerkönig; Heimat und
Verwandte hat er verlassen, um im fremden Lande für sich und sein
Gefolge Sieg und Beute zu gewinnen. Dem Ruse der bedrängten
Sequaner folgend, zog er mit 15 000 Mann über den Rhein; aber
nicht, um nach erfochtenem Siege heimzukehren, sondern um in dem
schönen Lande, das er gewonnen, sich ein neues Reich zu stiften. Dem
glücklichen Herrscher folgten auch bald zahlreiche Scharen seiner kriege¬
rischen Landsleute; endlich sah er gegen 120 000 Kämpfer um sich ge¬
schart, die ganz verschiedenen Volksstämmen angehörten. Wenn nun bei
den Germanen überhaupt nur Mut und Tapferkeit Ansehen und Gel¬
tung verlieh, wie sehr mußte sich da nicht Ariovist durch diese Eigen¬
schaften vor allen übrigen auszeichnen, die ihm willig ihr Schicksal an¬
vertrauten! Doch war er nicht bloß tapferer Krieger — diesen Ruhm
mußte er fast mit allen seinen Untergebenen teilen — sondern auch ein
einsichtsvoller Feldherr. Selbst die vereinten Kräfte der verbündeten
Gallier vermochten nichts gegen ihn, und daß sein Feldherrngeschick
wohl eben so großen Anteil am Siege hatte wie die ungestiime Tapfer¬
keit seiner Germanen, dürfen wir um so eher annehmen, wenn wir sehen,
daß seine geschickte Kriegsführung selbst den Cäsar in Verlegenheit brachte.
Als dieser nämlich ihm folgte, wußte Ariovist durch einen geschickten
Flankenmarsch sich in seinem Rücken aufzustellen und ihn von seinen
Zufuhren und Hülfsquellen abzuschneiden, so daß Cäsar sich sogar ge¬
nötigt sah, sein Heer zu teilen. Auch daß er standhaft längere Zeit hin¬
durch die von dem letztem angebotene Schlacht verweigerte, wo die Um¬
stände nicht günstig schienen, beweist zur Genüge, daß wir in ihm nicht
etwa einen rohen Krieger zu suchen haben, dem der Kampf als das
Höchste gilt, sondern einen umsichtigen Führer, der alle Verhältnisse
sorgsam erwägt. Da kann es uns also auch nicht befremden, in Ariovist
einen Mann zu finden, der sehr genau mit den gallischen, ja auch den
römischen Verhältnissen vertraut war. Er kannte sehr wohl den gewal¬
tigen Zwiespalt, der die römische Welt trennte, und wußte recht gut,
welchen außerordentlichen Dienst er vielen vornehmen Römern erwiese,
wenn es ihm gelänge, Cäsar zu überwältigen. Za diese hatten es sogar
nicht verschmäht, sich mit dem Barbarenkönige direkt in Verbindung zu
setzen, um durch ihn vielleicht ihren gefährlichen Gegner aus dem Wege
zu schaffen.
Indes vermögen die genannten Eigenschaften, so trefflich sie auch
sind, doch nur ein gewisses Gefühl der Achtung für den Germanenkönig
uns einzuflößen; was uns, d. h. uns Deutsche, aber mit einem ganz
besonderen Interesse für ihn erfüllt, das ist das hohe nationale Selbst¬
gefühl, das aus allen seinen Reden und Handlungen hervorbricht. Er
beweist dies in seinem Benehmen gegen die Gallier überhaupt und gegen
die Sequaner insbesondere, welche er, obschon von ihnen zu Hülfe gerufen,
seinen Stammgenossen zuliebe unterdrückt und in ihrem Gebiete be¬
schränkt, wobei er auf kein anderes Recht sich stützt, als auf dasjenige,
welches der Sieg und die überlegene Kraft verleiht. Doch mögen die