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A. Epische Poesie. Gerok: Eine alte Geschichte.
Es beugen sich die Kniee, es beugt sich jedes Herz,
Gebet in heil'ger Stunde steigt brünstig himmelwärts.
6. Da öffnen sich die Pforten, es tritt ein Mann herein.
Es hüllt die starken Glieder ein Büßerhemde ein —
Er schreitet auf den Kaiser, er wirft sich vor ihm hin,
Die Knie' er ihm umfasset mit tiefgebeugtem Sinn.
7. „O Bruder, meine Fehle, sie lasten schwer auf mir;
Hier liege ich zu Füßen, Verzeihung flehend, dir;
Was ich mit Blut gesündigt, die Gnade macht es rein;
Vergieb, o strenger Kaiser, vergieb, du Bruder mein!"
8. Doch strenge blickt der Kaiser den sünd'gen Bruder an:
„Zweimal hab' ich vergeben, nicht fürder mehr fortan!
Die Acht ist ausgesprochen, das Leben dir geraubt,
Nach dreier Tage Wechsel, da fällt dein schuldig Haupt!"
9. Bleich werden rings die Fürsten, der Herzog Heinrich bleich.
Und Stille herrscht im Kreise, gleichwie im Totenreich,
Man hätte mögen hören jetzt wohl ein fallend Laub,
Denn keiner wagt zu wehren dem Löwen seinen Raub.
10. Da hat sich ernst zum Kaiser der fromme Abt gewandt.
Das ew'ge Buch der Bücher, das hält er in der Hand;
Er liest mit lautem Munde der heil'gen Worte Klang,
Daß es in aller Herzen wie Gottes Stimme drang:
11. „Und Petrus sprach zum Herrn: Nicht so? Genügt ich hab'.
Wenn ich dem sünd'gen Bruder schon siebenmal vergab?
Doch Jesus ihm antwortet: Nicht siebenmal vergieb.
Nein, siebenzig mal sieben, das ist dem Vater lieb."
12. Da schmilzt des Kaisers Strenge in Thränen unbewußt,
Er hebt ihn auf, den Bruder, er drückt ihn an die Brust;
Ein lauter Ruf der Freude ist jubelnd rings erwacht —
Nie schöner ward begangen die heil'ge Weihenacht.
5. Eine alte Geschichte. (978.)
Karl Gerok, geb. den 30. Januar 1815 zu Vaihingen an der Enz, lebt alr
Oberhofprediger in Stuttgart.
1. Einst saß in Sommertagen ein deutscher König am Rhein,
Er labte sich im Bade und trank den kühlen Wein,
Hat siegreich jüngst geschlagen im Osten blutigen Strauß,
Nun ruht er mit Behagen zu neuen Kämpfen aus.
2. Doch drüben auf Frankreichs Throne kocht einer alten Groll,
Der aller Listen Meister und aller Ränke voll.
Sein Thron will aus den Fugen, den leimt er gern mit Blut,
Auch deuchte seinen Augen das Land am Rheine gut.
3. Und als er heimlich gerüstet, da griff er rasch zur Wehr,
Ergoß durch Lotharingen sein wildes, wüstes Heer;
Der Deutsche will's nicht glauben, er glaubt an Ehr' und Treu';
Jetzt steht er auf im Zorne, die Mähnen schüttelt der Leu.