Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, nebst einem Abriß der Poetik und Litteraturgeschichte

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einen kleinen Vers hier an die Wand geschrieben. Wohl möchte ich diesen Vers 
nochmals sehen, und wenn der Tag darunter bemerkt ist, an welchem es 
schehen, so haben Sie die Güte, mir solchen aufzuzeichnen." Sogleich führte : 
ich ihn an das südliche Fenster der Stube, an welchem links mit BlehE I 
geschrieben steht: 
Über allen Gipfeln ist Ruh, 
In allen Wipfeln spürst du rc. 
Den 7. September 1783. Goethe. 
Goethe überlas diese wenigen Verse, und Thränen flössen über st»^ 
Wangen. Ganz langsam zog er sein weißes Taschentuch hervor, trocknete sich j 
die Thränen und sprach in sanftem, wehmütigem Tone: „Ja, warte nur, 
balde ruhest auch du!", schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das 
Fenster in den düstern Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir mit den 
Worten: „Nun wollen wir wieder gehen." 
Zum Schluffe möge noch ein zweites Lied hier Platz finden, das dieselbe 
Überschrift „Wanderers Nachtlied" trägt und wahrscheinlich um dieselbe Zelt 
gedichtet wurde. Es ist ebenfalls ein treues Abbild der Gemütsstinuuung ^ ( 
Dichters, der, des ruhelosen Treibens und des rastlosen Jagens müde, f’* 
nach einem Frieden sehnte, der, unabhängig von des Lebens Wechselfälleu, 
aus die Dauer glücklich macht. 
Der du von dem Himmel bist, 
Alles Leid und Schmerzen stillest, 
Den, der doppelt elend ist, 
Doppelt mit Erquickung füllest: 
Ach, ich bin des Treibens müde! 
Was soll all' der Schmerz und Lust? 
Süßer Friede, 
Komm', ach komm' in meine Brust! 
234. Die Einheit der Handlung in Wilhelm Teil. 
/ranz Finnig. 
Das wichtigste Erfordernis eines guten Dramas ist die Einheit der Hand 
lung. Denn während das Gesetz der Einheit in Ort und Zeit den draina- 
tischen Dichter nicht so streng bindet, daß er sich in Bezug aus dasselbe nicht 
manche Freiheiten erlauben könnte, darf er, was die Handlung betrifft, weder' 
das Geringste aus einer fremden Sphäre in die Haupthandlung hineinziehe», 
noch einzelne Akte aus dem Verbände des Ganzen lockern und losgelöst er¬ 
scheinen lassen. Diese unerläßliche Forderung an den Dichter hat Schiller »l 
seinem Tell hinreichend erfüllt; denn trotz der Mannigfaltigkeit der Ereigniss 
und Begebenheiten herrscht in diesem Stücke strengste Einheit, klarste Zusammen 
gehörigkeit, — eine Thatsache, die uns mit desto größerer Bewunderung 1 
füllt, als gerade in diesem Stücke das Gesetz, die Einheit der Handlung 
wahren, mit anscheinend unlöslichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. 
Es zerlegt sich nämlich das Drama in drei verschiedene Szenenreihen, die 
teils nebeneinander herlaufen, teils sich einander verschlingen; die Handlung 
dieser „Dramen im Drama" wird von drei verschiedenen Personen getragen, 
von Dell, Rudenz und der Eidgenossenschaft der verbündeten Schweizer; aber
	        
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