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Tell und Rudenz in den Szenenreihen, in denen sie nicht gerade Hauptpersonen
find. Ja, bei dem Tellschuß in Altars finden wir sogar die Hauptpersonen
aus allen drei Teilen vereinigt. Denn daß Rudenz hier noch in Geßlers Ge¬
folge erscheint, kann uns nicht befremden: daß aber Stauffacher in Altors ist,
müssen wir als Zufall ansehen, und daß Melchthal, der noch kurz vorher bei
® Walther Fürst ängstlich versteckt gehalten wurde, sich hier ebenfalls vor den Augen
des Vogtes sehen läßt, könnte noch mehr Anstoß erregen; wenn aber der Dichter
die beiden letzteren auftreten läßt, ohne ihre Gegenwart genauer zu motivieren, so
kann er das nur in der Absicht, um mitten im Telldrama an das Schweizer¬
drama zu erinnern und den innersten Zusammenhang beider dein Zuschauer
gegenwärtig zu erhalten. Für Rudenz ist diese Szene von besonderer Beden
tung, indem sein mutiges Auftreten Berthas Gefangennahme zur Folge hat,
zugleich auch die Eidgenossen von seiner Sinnesänderung überzeugt, was der
bald darauf folgenden Verbindung zu gewaltsamen Schritten notwendig voraus¬
gehen mußte. Und wie diese Szene, so sind auch noch andere, besonders du
ersten, die den Hintergrund zum ganzen dramatischen Gemälde legen, und nicht
minder die Schlußszene zu jeder der drei Handlungen unumgänglich notwendig,
so daß sich die drei Sonderdramen nicht einzeln heraustrennen lassen, sondern
einander ihrem innersten Wesen nach bedingen, voraussetzen und ergänzen. Das
einzige, was der Haupthandlung fremd zu sein scheint, ist das Auftreten des
Reichsboten am Schluffe und die Einführung des Johann Parricida, gleich'
wohl ist beides durchaus notwendig, teils um die Volksfreiheit, die zwar er¬
rungen, aber noch nicht befestigt ist, auch nach außen als gesichert erscheinen
zu lassen, teils um die Verschiedenheit in der Natur der beiden Morde, an
Geßler und an Albrecht, handgreiflicher und anschaulicher zu machen.
235. Gefährliche Lektüre.
Nach Lrnlt NaKmann.
Eine der gefährlichsten Erholungen, die nur zu oft die Vorläufer des
Lasters sind, weil sie uns lehren, dasselbe zu entschuldigen, es lieb zu go-
winnen, ja es zu verherrlichen, ist die schlechte Auswahl der Lektüre.
Das Lesen ist im allgemeinen eine edle Erholung, und das orientalische
Sprichwort, welches ein gutes Buch einen guten Freund nennt, der unsere
Geheimnisse nicht verrät und uns Weisheit lehrt, ist ein wahres Sprichwort-
Wenn nun auch der Satz wahr ist, daß ein gutes Buch der beste Gesellschafter
ist, um die Zeit nützlich zu verwenden, was ist aber dann von jenen Büchern,
die man gewöhnlich Romane nennt, von jenen unwahren und ungeschichtlichen
Darstellungen zu sagen, welche, statt sich an die edlen Neigungen des Mensch^
zu wenden und seinen Geist wahrhaft aufzuklären, im Gegenteil denselben ver¬
wirren und verdunkeln und nur jene groben Neigungen in ihm erwecken unb
entwickeln, welche den Menschen unter die unvernünftigen Tiere herabwürdigest'
„Bücher sind für die Seele, was die Nahrung für den Körper ist," sagt ein
französischer Gelehrter. Muß demnach nicht eine Seele, die sich gewöhnt hat,
mit Gift und Unreinigkeiten sich zu nähren, sehr bald schwach und krank werden-
Hundertmal besser ist es, daß jemand nie ein Buch geöffnet und kein Wostt
gelesen hat, als daß er durch die unedle Bekanntschaft mit schlechten Büchern