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Er konnte es nicht mehr sehen — er verhüllte das Auge — tausend heiße
Thränen strömten versiegend in den Schnee — er seufzte nur noch leise, trost¬
los und sinnlos: „Komm' nur wieder, Jugend, komm' wieder!" —
Und sie kam wieder; denn er hatte nur in der Nenjahrsnacht so fürchterlich
geträumt. Er war noch ein Jüngling. Nur seine Verirrungen waren kein
Traum gewesen; aber er dankte Gott, daß er, noch jung, in den schmutzigen
Gängen des Lasters umkehren und sich ans die Sonnenbahn zurückbegeben konnte,
die ins reine Land der Ernten leitet.
Kehre mit ihm um, junger Leser, wenn du auf seinem Irrwege stehst!
Dieser schreckende Traum wird künftig dein Richter werden; aber wenn du einst
jammervoll rufen würdest: „Komm' wieder, schöne Jugend!" — so würde sie
nicht wieder kommen.
20. Die gute Mutter.
Zoh. Peter gebet.
Im Jahre 1796, als die französische Armee nach dem Rückzug ans
Deutschland jenseits hinab am Rheine lag, sehnte sich eine Mutter in der
Schweiz nach ihrem Kind, das bei der Armee war und von dem sie lange
nichts erfahren hatte, und ihr Herz hatte daheim keine Ruhe mehr. „Er muß
bei der Rheinarmee sein," sagte sie, „und der liebe Gott, der ihn mir gegeben
hat, wird mich zu ihm führen"; und als sie ans dem Postwagen zum St. Jo-
hannisthor in Basel heraus und an den Rebhäusern vorbei ins Sundgau
gekommen war, treuherzig und redselig, wie alle Gemüter sind, die Teilnehmung
und Hosfnmig bedürfen, und die Schweizer ohnedem, erzählte sie ihren Reise¬
gefährten bald, was sie auf den Weg getrieben hatte. „Find' ich ihn in Colmar
nicht, so geh' ich nach Straßburg; find' ich ihn in Straßburg nicht, so geh'
ich nach Mainz." Die anderen sagten das und jenes dazu, und einer fragte
sie: „Was ist denn Euer Sohn bei der Armee? Major?" Da wurde sie fast
verschämt in ihrem Inwendigen. Denn sie dachte, er könnte wohl Major sein
oder so etwas, weil er immer brav war; aber sie wußte es nicht. „Wenn ich
ihn nur finde," sagte sie, „so darf er auch etwas weniger sein: denn er ist
mein Sohn." Zwei Stunden herwärts Colmar aber, als schon die Sonne
sich zu den Elsässer Bergen neigte, die Hirten trieben heim, die Kamine in
den Dörfern rauchten, die Soldaten in dem Lager nicht weit von der Straße
standen partieweise mit dem Gewehr beim Fuß, und die Generale und Obersten
standen vor dem Lager beisammen, diskurierten mit einander, und eine junge
weißgekleidete Person von weiblichem Geschlecht und seiner Bildung stand auch
dabei und wiegte auf ihren Armen ein Kind. Die Frau im Postwagen sagte:
„Das ist auch keine gemeine Person, daß sie so nahe bei den Herren steht.
Was gilt's, der, womit sie redet, ist ihr Mann." Der geneigte Leser fängt
aübereits an, etwas zu merken; aber die Frau im Postwagen merkte noch nichts.
Ihr Mutterherz hatte noch keine Ahnung, so nahe sie an ihm vorbeigefahren war,
sondern bis nach Colmar hinein war sie still. und redete nimmer. In der
Stadt im Wirtshaus, wo schon eine Gesellschaft an der Mahlzeit saß, und die
Reisegefährten setzten sich auch noch, wo Platz war, da war ihr Herz erst recht
zwischen Bangigkeit und Hoffnung eingeengt, daß sie jetzt etwas von ihrem
Sohn erfahren könnte, ob ihn niemand kenne, und ob er noch lebe, und ob