Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, nebst einem Abriß der Poetik und Litteraturgeschichte

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Summend dem duftenden Korb entfährt am sonnigen Lenztag: 
Also entströmten auch hier wohl zwanzigtausend der Christen — 
Jetzo nicht Sklaven mehr — den Kerkern der Stadt und der Hochburg, 
Bleich, ermattet durch Qual, durch Hunger und grause Behandlung: 
Glückliche, die nun zuerst umschlangen die Kniee des Kaisers, 
Knieend im Staub, auf die Hand ihm preßten die zitternden Lippen — 
Netzten mit glühenden Thränen sein Kleid! Nur Stöhnen und Schluchzen 
Tönte noch ringsumher aus der angsterregenden Stille. 
Jetzt ein Weinen und Heulen erscholl, und jetzo mit einmal 
Furchtbar hallte Geschrei: „O Vater, Retter, Befreier!" 
Wie die Meeresflut, vom nahenden Sturme gehoben, 
Erst nur leis' aufrauscht, doch bald im schrecklichen Aufruhr 
Heulet in Wolkenhöh'n und braust in des gähnenden Abgrunds 
Tiefen, daß, schaudernd vor Angst, ihr die Erd' und der Himmel erdröhnet: 
Also ertönte der Schrei der Glücklichen rings um den Kaiser. 
Tausender Händ', empor zu dem Vater im Himmel gehoben, 
Zeigten die Bahn, auf welcher des tieferschütterten Herzens 
Dank aufflog und des Segens Füll' erflehte dem Retter. 
Lauter ward das Getös und bewegter die wimmelnde Schar dort. 
Einer dem andern sank an die Brust und fragte noch zweifelnd: 
„Ist es gewiß: wir frei — entronnen auf immer den Banden?" 
Einzeln, dann wieder vereint, dann immer gewaltiger scholl's nun: 
„Werd' ich dich Wiedersehn, o Vaterland — in der Heimat 
Sehn dich, väterlich Haus, wo mir der fröhlichen Kindheit 
Jahre entschwanden im Glück? Werd' ich den zärtlichen Vater — 
Ich die liebende Mutter umfahn — die holde Geliebt' ich, 
Liebend und treu, und ich den Freund, die Kinder und Gattin?" 
Also erscholl's aus dem brausenden Strom endlosen Entzückens; 
Aber der Retter stand im Kreise der staunenden Feldherrn, 
Von den seligen Scharen umjauchzt. Er blickte verstummend 
Über die Menge hinaus, in des hochaufwölbenden Äthers 
Schimmernden Raum empor (an seinen Wangen herunter 
Stürzte die Thrän'), und als er nun senkte das Haupt und voll Dankes 
Preßte die Recht' an das pochende Herz: da wandt' er sich lächelnd, 
Weinend, nach Eberstein und sagte mit leiserer Stimme: 
„Stürb' ich doch jetzt: denn, ach, mir wurde die Wonne des Himmels!" 
Drauf mit erheitertem Blick begann er und sagte zu Guasto: 
„Edler Greis, vertraut sei dir die Pflege der Freien, 
Daß du mit Vaterhuld und weis' umschauender Sorgfalt 
Stillest die Not der Hungrigen und bekleidest die Nackten! 
Heimwärts schiffen wir bald. In des Meers freiwogenden Fluten 
Rauschet der Kiel, und vom Mast erglänzen die Kränze der Sieger: 
Dort den Lieben zur wonnigen Schau. Doch nimmer entschwindet 
Uns das errungene Ziel hinfort; nicht welket der Kranz mehr, 
Der uns geworden: denn seht, er keimte hienieden und blühet 
Unvergänglich fort in den hehren Gefllden des Himmels!" 
Jener führte die jauchzende Schar zu des Meeres Gestad' hin. 
Sorgend für aller Wohl nach dem Willen des edelsten Herrschers; 
Aber er trat voll Wehmut ein in die Thore von Tunis!
	        
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