Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, nebst einem Abriß der Poetik und Litteraturgeschichte

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Zu fallen, wie ein Feld voll golvner Ähren, 
Die schlank gewallt im grünen Jugendkleid, 
Doch nun ihr lastend Haupt zur Erde kehren! 
Wer weint darob, daß es nun Erntezeit? 
In Nacht zu sinken, wie des Meeres Wogen, 
Drauf Sonnenglanz, Goldwimpel, reiche Fracht, 
Gesang und Schwäne tagesüber zogen! 
Die Zeit ist um, ihr Recht will auch die Nacht! 
Und zu zerstäuben, wie die flücht'ge Wolke! 
Sie hat Gedeih'n geregnet auf die Flur, 
Den Friedensbogen hell gezeigt dem Volke 
Und löst sich nun in leuchtenden Azur. 
So schied auch er, der nun dahingegangen, 
Der hohe Mann, der träft'ge Dichtergreis, 
Auf dessen Lipp', auf dessen bleichen Wangen 
Der Kuß des Glücks noch jetzt verglühet leis. — 
Ein kalter starrer Arm, reglos gebeuget, 
In dem die goldne Leier glanzvoll blitzt; 
Ein greises Silberhaupt, im Tod geneiget. 
Drauf immer grün der frische Lorbeer sitzt; 
Sah dies mein Aug', nie konnt' es Thränen tauen, 
Nein, leuchtend, ruhig, klar und glanzerhellt 
Mußt' es drauf still und lange niederschauen; — 
Fürwahr, durch eine Thräne wär's entstellt! 
181. Die Gräber »u Mterijen. 
Friedrich Nückert. 
Erstes Grab. 
Zu Ottensen l) auf der Wiese 
>stt eine gemeinsame Gruft; 
To traurig ist feine wie diese 
Wohl unter des Himmels Luft. 
Die rufen .Weh" zum Himmel 
Aus ihrer stummen Gruft 
Und werden's rufen zum Himmel, 
Wann die Drommet' einst ruft. 
Darinnen liegt begraben 
Ein ganzes Volksgeschlecht,2) 
Väter, Mütter, Brüder, Töchter, 
Knaben, 
Zusammen Herr und Knecht. 
1) Ottensen ist ein großes und schönes holsteinisches Dorf nahe bei Altona. Auf dem Kirchhof zu 
Ottensen befinden sich die merkwürdigen Gräber. 
2) Am 30. Mai 1813 rückte Marschall Davoust mit zahlreichen französischen Truppen in Hamburg 
e’". Durch die härtesten Maßregeln, die er schonungslos ins Werk setzte, sahen sich mehr als dreißig- 
Uuisend Einwohner Hamburgs genötigt, die Stadt zu verlassen, und 1138 davon fanden in der Strenge 
Winters ihr Grab in Ottensen. Das Denkmal dieser Unglücklichen befindet sich jetzt vor dem Damm- 
^»re zu Hamburg, wohin es 1841 nebst den Gebeinen der darunter Ruhenden versetzt wurde. Es ist 
e,n antiker Sarkophag von Sandstein mit de» bezüglichen Inschriften. 
„Wir haben gewohnt in Frieden 
Zu Hamburg in der Stadt, 
Kinder, Bis uns daraus vertrieben 
Ein fremder Wütrich hat. 
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