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XII. Didaktisches.
Am Abhang des Gotthardberges, in dem Tale von Urseren, aus den ver¬
borgenen Tiefen des Thomasees sprudelt die Quelle silberhell hervor, gleichsam die
hohe Bestimmung nicht ahnend, zu der ihr Gewässer die weite, wechselvolle Bahn
führen wird. Im mutwilligen Lauf stürzt der erstarkte Bach die schroffen Felsen
hinab. Kristallhell durchläuft er die grünen Auen in munterer Heiterkeit, wie der
spielende Knabe, der des Lebens Ernst und Bitterkeit noch nicht erfahren hat. Noch
werden seine Wogen nicht gezwungen, die gewichtigen Räder der Mühle zu schwingen,
noch nicht wird sein Rücken mit Lasten beschwert und sein Lauf durch hemmende
Dämme beengt; denn noch unbestimmt ist seines Laufes Bahn. Bald gegen West,
bald gegen Nord durchwandert der erstaunte Knabe, wie ohne Vorsatz, Helvetiens
fruchtbare Auen. Von der Freude der Jugend dahingerissen, stürzt er in die Tiefen
des suevischen Meeres; doch hier soll er sein Ziel noch nicht finden, mit des Jüng¬
lings Stärke bricht er sich die Bahn durch die blaue Fläche. Ungestüm hüpft er
über des Rheinfalls Felsen in jugendlichem Übermut. Doch dies sollte die letzte
Jugendfreude sein. Allmählich wird sein Lauf ruhiger. Augustas ehrwürdige
Mauern mahnen ihn zum Ernst und erinnern ihn, daß er an der Pforte des Mannes¬
alters angelangt sei. Einen andern Weg schlügt er ein.
Mit festem Sinn und „treu, wie dem Schweizer gebührt, bewacht er Ger¬
maniens Grenze". In der Hoheit alemannischer Größe durchströmt er des Tales
fruchtbare Gefilde. Nicht mehr windet sich der männliche Strom durch felsige
Täler; niedriger, einförmiger werden seine Ufer, ruhiger wird sein Lauf. Un¬
gewohnte Arbeiten werden ihm auferlegt, mit unermüdeter Tätigkeit schwingt er
zahllose Räder und bringt die Erzeugnisse des gesegneten Alsatiens zur alten
deutschen Stadt, die einst Treulosigkeit zu gallischem Bollwerk umgewandelt hatte.
Bei Straßburgs unerschütterlichen Mauern mahnt ihn der ehrwürdige Dom an
seine Bestimmung, Germaniens Hüter zu sein. Mit deutscher Treue erfüllt er sein
hohes Amt. Doch immer ernster, immer verworrener wird nun sein Weg. Nur
mit männlicher Ausdauer kann er seinem Ziele näher kommen; denn durch ver¬
schlungene Wege windet sich zürnend sein rascher Schritt und führt ihn an Mann¬
heims freundliche Wohnungen hin, wo ihn der kräftige Neckar begrüßt und seinen
Wogen neue Stärke verleiht. Um seines Stromes Kraft zu fördern, bahnt ihm der
Menschen hilfreiche Hand neue Pfade. Des Kaufmanns Güter trägt er in sicherem
Lauf bis an den bestimmten Ort, und Tausende von Menschen, die Gewinnsucht
treibt, oder die, dem „Gefängnis der Stadt entflohen", Erholung und Heiterkeit
suchen, trägt er in eiligem Fluge zu seinen herrlichen Gauen oder in des Nieder¬
landes volkbelebte Städte. Doch dahin ist seiner Spiegelfläche ruhiges Wogen;
wie der Sturm der Leidenschaften des Menschen Antlitz durchfurcht, so wühlen des
Dampfboots Räder mit übermenschlicher Kraft seine ruhige Tiefe auf. Treu er¬
füllt er dennoch seine Pflichten, und bald kehrt die Ruhe in seine Züge zurück. Dort,
wo der Mann die deutsche Festung begrüßt — die nicht abermals dem neidischen
Nachbar ihre Tore öffnen möge! — wendet er gleichsam auf des nun mit ihm ver¬
einten Freundes Rat plötzlich seinen Lauf und kämpft mit doppelter Gewalt gegen