Der Rheinstrom, ein Bild des menschlichen Lebens. 273
des Felsentores hemmende Klippen. Vergebens reißt ihn die wirbelnde Strömung
hinab; vergebens stellt sich ihm der Felsen unbesiegbarer Damm entgegen; schnell
rafft er sich auf und verdoppelt seine Schritte, um in raschem Lauf die unbenutzte
Stunde wieder zu gewinnen. Nicht unbelohnt aber bleibt sein unermüdlicher Eifer;
durch des Rheingaus Weinberge strömend, findet er überall geschäftige Hände;
hilfreich spendet er sein erquickendes Wasser der süßen Rebe, und mit seinem Namen
rühmt die Welt den köstlichen Labetrunk, den die Sonne an seinen grünen Hügeln
bereitet. Traurig blicken von der Berge Gipfeln des Rheingaus alte Burgen herab;
sie beneiden den labenden Strom um seine heitere Miene und stehen als warnende
Zeichen bestraften Übermuts jetzt unter dem reichen Segen der Natur, um den sie
einst freventlich die armen Bewohner betrogen. Doch immer ernster wird nun des
Stromes Weg. An den sieben Bergen begrüßt er noch den freundlichen Musensitz,
majestätisch wälzt er sich an der altehrwürdigen Colonia vorüber, und willig reicht
er dem emsigen Arbeiter des Niederrheins die Hand, um Gedeihen dem fleißigen
Gewerbe und Nahrung den volkreichen Städten zu verleihen.
So hat er männlich und wohltätig gewirkt, solange seine Kraft noch vereint,
solange noch ungeschwächt seiner Glieder Stärke war. In immer gleichem Laufe
rückt er so seinem Alter näher. In Batavias Ebenen erscheint er mit sinkenden
Kräften. Stärkere Söhne trennen sich von dem alten Vater. Mit der fränkischen
Freundin vereint sich der eine, und unter den Masten des reichen Rotterdams sehen
sie sich wieder, um sich mit den Wogen des nordischen Meeres zu mischen; auch
jüngere Söhne suchen sich einen eigenen Pfad und ein eigenes Grab. Verlassen
wandert der ermattete Vater vorüber an der berühmten Musenstadt Niederlands.
Das ist nicht mehr der klare, muntere Fluß, wie er an Alemanniens Fluren
vorüberströmte, nicht mehr der majestätische Strom, wie er durch die romantischen
Täler des Rheingaus wogte. Still und langsam ist sein Lauf, es sinken seine
Kräfte, immer enger wird sein Bett, immer flacher seine Ufer. Erschöpft und kraft-
und schmucklos verstecht er endlich im Sande der Nordsee.
Das ist des herrlichen Stromes Ende, das das ernste Bild des Menschen¬
lebens, wie es sich in seinen Wogen spiegelt. So wird nach unsrer Jugend heitrem
Spiele, nach unseres männlichen Waltens mühevoller Arbeit, nach unsers Alters
Schwachheit und Einsamkeit uns einst der Tod in seine Arme schließen. Wohl
uns, wenn wir dann auf ein reiches Tagewerk zurückblicken können, wenn nicht einst
mit unserm Versinken ins Grab unser Name der Vergessenheit anheimfällt, und
wenn — bleiben wir auch dem großen Schauplatze menschlicher Tätigkeit fremd —
unser Andenken im Herzen edler Menschen fortlebt. Unsers vaterländischen
Stromes Ruhm geht durch alle Länder; zum Rhein hin zieht es mit Allgewalt den
lebenssatten Briten und den heiteren Gallier. Wo ist die Erde schöner als am
Rhein? Welches Land trägt köstlichere Gaben, nährt kräftigere Menschen? Laßt
uns wie unser herrlicher Strom tätig und nützlich, männlich und weise unsern Lauf
vollenden. ' Gockel.
Kehrein, Lesebuch. II.
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