Full text: [2 = Mittlere Lehrstufe, [Schülerband]] (2 = Mittlere Lehrstufe, [Schülerband])

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I. Erzählung. 
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„Ew. Majestät, der Hirt kann seine Schäflein nicht verlassen, ich danke. Unter 
ihnen habe ich gelebt, unter ihnen will ich auch begraben sein." 
Dem Kaiser traten die Tränen in die Augen, eine solche Wendung hätte er 
sich doch nicht versprochen. Nach einer langen Pause, während welcher die zwei 
großen Männer schweigend sich gegenüber standen, unterbrach der Kaiser zuerst das 
Schweigen und sagte fast tonlos vor sich hin: „Einen würdigen Priester 
zu belohnen, ist auch einKaiser vonÖstreich zu arm." Ehrfurchts¬ 
voll und mit Tränen im Auge umarmte er ihn. Wieder trat eine Pause ein. 
Dann fuhr der Monarch fort: „Ihr Blick, mein edler Freund, auf Ihre Mutter 
und auf das Kruzifix ist mir jetzt klar." 
Lange blieben die Züge des Monarchen ernst und gerührt; endlich zeigte sich 
wieder dieser eigentiimliche Anflug, der ihn fo hinreißend liebenswürdig machte und 
einen humoristischen Scherz verkündigte. Er sprach: „Das muß ich meinen Leuten 
daheim sagen, was mir heute alles in diesem Pfarrhofe passiert ist: zuerst kom¬ 
mandierte so ein kleiner Knirps von einem Soldatenbuben den Kaiser von Östreich, 
der Tausende selbst kommandiert, und zum Lohne meiner Folgsamkeit sagte der 
kleine Schelm: „Er heißt nichts"; hernach gibt ein Landpfarrer dem nämlichen 
Kaiser einen Korb. Hat man schon so etwas erhört! und noch dazu auf dem näm¬ 
lichen Boden, wo dieser Kaiser von Östreich den Franzosen zeigte, daß sein Kom¬ 
mando nicht ohne Geschick und Nachdruck ist. Aber wartet nur, ich werde schon 
was aussinnen, womit ich euch beide, den kleinen wie den großen Kommandanten, 
zum Gehorsam bringen werde. Vorerst mache ich damit den Anfang, daß ich Sie, 
Herr Pfarrer, Ihrer Kinder da draußen im Garten beraube, und das übrige wird 
sich fügen." (Bald darauf wurden sie in Militär- und Waisenanstalten verteilt.) 
Hierauf empfahl sich der Monarch, und der Pfarrer begleitete ihn demütig bis zum 
Wagen, der unweit des Pfarrhofes hielt. 
Ein einziger Diener öffnete den Wagenschlag, und der Kaiser stieg ein. Schon 
im Wagen, wandte er sich nochmals zum Pfarrer, ergriff dessen Hand, und indem 
er in das bleiche eingefallene Angesicht sah, sprach er weich und besorgt: „Hoch¬ 
würden, Ihre Züge sind bleich, und ich fürchte, Sie werden mir recht krank. Erz¬ 
bischof Hohenwart wird Ihnen einen Aushilfspriester schicken. Schonen Sie 
sich um Gottes willen, wenn nicht für sich selbst, doch für die Ihnen Anvertrauten. 
Ein Mann wie Sie soll für Kirche und Staat nicht frühzeitig verloren gehen." — 
„Wie Gott will," antwortete der Pfarrer; „wir stehen alle in der Hand 
Gottes, ohne dessen Wissen und Willen kein Haar von unserm Haupte füllt." 
„Der liebe Gott schütze und segne Sie!" sagte der fromme Monarch. „Leben 
Sie wohl. Auf Wiedersehen in besseren Zeiten!" Der Wagen rollte fort und 
mußte am Hauptspitale vorüber. Am Tore stand eine Truppe Soldaten, die 
bereits auf dem Wege der Besserung mit verbundenen Köpfen und Armen, Fran¬ 
zosen und Östreicher friedlich neben einander, sich der milden Abendsonne freuten. 
Durch die Schwester des Pfarrers, die manches Wort des Gespräches zwischen 
dem Kaiser und ihrem Bruder vernommen hatte, wußte bald der ganze Ort die
	        
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