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Überblick der deutschen Verskunst.
dicht entlehnt ist, vorausschickt und dasselbe erläutert, wobei jedoch die freieste Auf¬
fassung vorwalten darf oder vielmehr vorwalten muß. Die Glosse muß aus so viel
zehnzeiligen Strophen (Decimen) bestehen, als das Thema Verszeilen hat, und
zwar so, daß jede Strophe mit einer Zeile des Themas schließt, die Endzeilen sämt¬
licher Strophen mithin das vollständige Thema enthalten. Nach der fünften Zeile
muß ein Ruhepunkt stattfinden, wodurch dieselbe in zwei gleiche Hälften zerfällt, deren
jede nur zwei (männliche oder weibliche) Reime haben darf, so daß also der eine
zwei-, der andere dreimal wiederkehren muß. Vgl. Nr. 269. — Von den Franzosen
sind entlehnt: Triolett, ein achtzeiliges Gedicht mit nur zwei Neimen, dessen erste
Zeile zugleich die vierte und letzte sein muß; doch erlauben sich die deutschen Dichter
manche Abweichungen. Vgl. Nr. 262. — Das Rondeau (Ringelgedicht) drückt
wie das Triolett ein sanftes, zartes Gefühl in einer leichten Sprache aus und
unterscheidet sich der Form nach vom Triolett dadurch, daß es aus zwei oder mehreren
Strophen besteht, deren jede wie ein Triolett gebaut ist. Vgl. Nr. 263. — Für das
Madrigal bildete sich keine feste Form aus; so nennt man jedes kleine Gedicht
mit einem überraschenden geistreichen Gedanken, derselbe mag nun ein Spiel des Witzes
sein oder in einem tieferen Gefühl seinen Grund haben. Vgl. Nr. 264.
§ 50. Orientalische (persische) Versmaße sind die Gasele (auch das Gasel,
Ghasel) und die Makame. Durch Rückert und Platen sind die Gasel e (Lob¬
gedicht) und durch Rückert die Makame in die deutsche Poesie eingeführt. Die¬
selbe gestattet im ganzen Gedicht nur einen Reim: gewöhnlich wird zwischen diese
Reime, nachdem die ersten beiden Zeilen des Gedichtes die Weise des Reimes an¬
gegeben haben, eine reimlose Zeile eingeschoben. Die Verse können jambisch, trochäisch,
daktylisch, anapästisch oder gemischt sein, auch die Länge derselben ist nicht bestimmt.
Außer dem wiederkehrenden Reim ist es Sitte, auch eine Anzahl Wörter oder doch
ein einzelnes Wort in jeder Zeile zu wiederholen. Vgl. Nr. 270. — Die Makame
ist eine Art gereimten Gespräches ohne bestimmtes Versmaß, wie nachfolgende Probe
von Rückert zeigt:
Nadel und Kamm.
Hareth ben Hemman erzählt: Das Seltsamste, was ich auf Reisen sah — war,
was in Mearret Elnomen geschah, — wo sich stellte dem Richter dar — ein
streitendes Paar, — ein Alter mit gestumpftem Zahne, — und ein Jüngling, frisch
wie ein Zweig der Myrobalane. — Der Alte sprach: Walte Gottes Gnad' hie, —
halt und erhalte den Kahdi, — daß er recht walte — und gerecht verwalte, — sich
recht verhalte — und das Recht erhalte! — Ich hatte eine seine, — allerliebste
kleine, — glatte, nette, niedliche, — spitzige, doch friedliche, — schlanke, blanke,
flinke, unermüdliche, — eine dienstfertige Dirne, — die sich lenken ließ an einem
Zwirne; — zierlich, manierlich; — behend, hantierlich, — aus- und einschlüpsend,
— hin- und herhüpfend, — alles mit Fleiß verknüpfend; — die überall säumte —
und doch nichts versäumte, — die überall steckte und stickte, — und der alles fleckte,
was sie flickte rc.
Reimlose (antike) Strophen.
§ 51. Das sapphische Versmaß (nach der griechischen Dichterin Sappho
so genannt) hat der römische Dichter Horaz etwas verändert, indem er im zweiten
Fuß immer den Spondeus und nach der fünften Silbe immer die Cäsur eintreten
ließ. Die deutschen Dichter sind ihm, mehr aber den Griechen gefolgt, oder haben
sich noch andere Veränderungen erlaubt, namentlich in Bezug auf die (oft fehlende)
Cäsur und auf die Stellung des Daktylus in den drei ersten Versen. Das Schema ist: