Full text: Ein Hausbuch aus deutscher Dichtung und Prosa für die Zwecke der Frauenbildung

Rückert. 
247 
an 3ie mahnte. Ein armer Kroate ober Slowake ober Landsmann 
von Ihnen, ein Wallfahrer, uüe bereit neulich eine ganze Schiffs¬ 
labung bei Mariataferl ertrunken ist, trieb in einem kleinen Kahn auf 
ber Donau. Im ärmlichen Zwilchkittel stanb er in seinem Fahrzeug 
unb ruberte lässig bahrn unb borthin, planlos, unb schaute mit seinen 
bunkeln, schwermütigen Blicken ben bewegten Wellen nach, unbekümmert 
nin bie Leute am Ufer, bte seinem ivunberlichen Treiben zusahen. 
Seinen Hut mußte er weggeworfen haben, ben bloßen Kopf setzte er¬ 
ber Sonne aus, kein Kleidungsstück, kein Brot, keine Flasche hatte er 
in seinem Kahn, nur einen großen, vollen, grünen Kranz, ben er an 
seinem Pilgerstabe, am Borberteile bes Schiffchens wie eine Flagge 
befestigt hatte. War bas nicht bas Bild eines echten Dichters? Ihr Bilb, 
lieber Niembsch! Haben Sie nicht auch im Leben so herumgetrieben, 
im leichten Kahn, aus beut wilden dunklen Strom, nach keinem Ufer 
ausblickend, mit weggeworfenem Hute und nur den Kranz bewahrend 
statt allen irdischen Gutes? Und wenn die andern, besonnenen, klugen 
Leute sorgfältig die Schlasmützen und Hüte und alle Arten von Kopf¬ 
bedeckungen aus ihre Schädel stülpten, haben Sie nicht Ihr ebles, 
schönes Haupt ber Sonne und ben Blitzen, dem Schnee und den 
Stürmen preisgegeben, von dem schönen, grünen, ewig grünen Kranz 
umschlungen, aber nicht geschützt? £ die schlanken, glatten Lorbeer¬ 
blätter schmücken die Stirne nur, sie behüten sie nicht, sie halten die 
Unbill dieser rauhen Zeit nicht ab und darum/ darum sind Sie krank! 
Ich habe ihm lange nachgesehen, dem armen Landsmanne, und an 
feinen Landsmann gedacht mit quälender Sehnsucht. 
(Brief Sofiens von Lvwemhal an Lenau.) . 
15. Rückert. 
1. Das eine Lied. 
Ich weiß der Lieder viele 
Und singe, was ihr liebt. 
Das ist wohl gut zum Spiele, 
Weil Wechsel Freude giebt; 
Doch hätte Lieb' und Friede 
Genug an einem Liede 
Und fragte nicht, nw's hundert giebt. 
Jüngst sah ich einen Hirten 
Im stillen Wiesenthal, 
Wo klare Bächlein irrten 
Am hellen Sonnenstrahl. 
Er lag am schatt'gen Baume 
Und blies als wie im Traume 
Ein Lied aus einem Blättlein sclnnal.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.