Full text: Deutsches Lesebuch für die Bedürfnisse katholischer Volksschulen

17. Die Geschwister. 
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zebäude auf dem prachtvollen Bahnhofe zu Braunschweig sein; der Zug 
möchte vielleicht etwas früher kommen als um fünf Uhr. 
Aber der Zug kam doch nicht früher und war auch der Schwester 
viel zu langsam gefahren. Sie hatte nach den Türmen der alten 
Welfenstadt schon lange, lange hinausgesehen, sich alle Bilder ihrer 
Jugend neu belebt; und jedes Haus der Straße, in der sie gewohnt, 
samt den Schaufenstern unten und den Erkern droben, trat wieder 
in die Erinnerung, und wie der Bruder so lange an ihrem Halse ge— 
weint, als sie abgereiset, wie er noch einmal den Wagen auf kürzerem 
Wege eingeholt, um sie noch einmal zu sehen; und in ihrer Liebe 
denkt sie daran: ‚Wenn er nur nicht jetzt mit der gewohnten Hast 
schon dem ankommenden Zuge entgegenstürzt!“ und sie lehnt sich zurück, 
damit er nicht durch das Wiedersehen verleitet werde, sich zu früh zu 
nahen, und in Gefahr komme. Der Zug hat endlich Braunschweig 
erreicht, und sind viele Hände bereit, zu helfen und Gepäcke anzu— 
nehmen, — aber keine Bruderhand. Die Dame begiebt sich endlich 
in das verabredete Wartezimmer und denkt: Der Zug ist zu früh an— 
gekommen, und der Bruder ist daheim noch mit Zurüstungen beschäftigt 
und weiß nicht, daß ich nichts suche als ihn und mit allem zufrieden 
sein will, wenn ich ihn nur sehe und einmal noch in meiner Heimat 
und in dem Hause bin, darin meine Wiege gestanden. 
Das Wartezimmer ist mit den Ankommenden gefüllt; aber kein 
Bruder ist da; der Strom der Reisenden verliert sich; Diener kommen 
und gehen, und es wird sechs und sieben Uhr, und kommt noch kein 
Bruder, und die Dame ist allein im großen Wartesaale, und außer 
ihr sitzt nur noch ein altes Männlein, graues Hauptes und mit ge— 
bücktem Rücken, nahe bei der Thür. Da ward es ihr doch schwer 
ums Herz, und sie fragt, ob's denn hier in Braunschweig nicht längst 
fünf Uhr sei? „Schon sieben,“ antwortet der Mann, „und ich wartete 
auch schon seit Mittag, und ist mir lange geworden, denn ich hoffte, 
meine Schwester wiederzusehen die ich seit 42 Jahren nimmer ge— 
sehen habe.“ ‚Und ich,“ versetzte jene, hoffte hier meinen Bruder 
zu sehen, meinen einzigen Bruder, den ich hier zurückließ, als ich vor 
42 Jahren nach Elberfeld heiratete“ Da wohnt auch meine 
Schwester,“ spricht jener, „und in diesem Wartezimmer wollten wir 
uns treffen!“ Aber der freundliche Leser merkt schon, was den beiden 
erst nach und nach aufging: der Bruder und die Schwester waren 
schon seit Stunden bei einander und kannten sich nicht. Denn wie sie 
einander zuletzt gesehen in der Kraft und Fülle der Jugend, hatten sie 
ihr Bild gegenseitig festgehalten und nicht bedacht, daß 42 Jahre den 
Schnee des Alters auf das Haupt dessen legen, der, als sie anfingen, 
noch Jüngling war, und die Gicht war dazu gekommen und die Sorge, 
und was sonst noch für Haartinkturen in der Welt sind, nicht so aus— 
posaunt, wie Schweizer Haaröl, aber fürwahr sicherer und unfehlbarer 
in ihren Wirkungen als jenes. Desselbigengleichen die Schwester war 
nicht die schlanke, blühende Hochzeiterin, wie an ihrem Brautmorgen; 
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