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19. Zwei Schwestern.
14. Und der Heiland spricht, das Auge unverwandt auf ihn gerichtet,
mit dem Blick, der an der Tage letztem Falsch und Wahrheit sichtet:
„Meine Kirche steht verödet, meine Treuen sind verirrt, —
zu der Stadt ist meine Straße, wo man neu mich kreuz'gen wird!“
15. Und der Herr verschwand: doch eil'ger, als er erst den Tod geflohen,
flieht der Jünger jetzt das Leben, dem des Meisters Blicke drohen.
Schnell den Lauf zurückgewendet! Über Hellas graut es schon;
Neros gold'nes Haus erglänzet bald als gold'ner Sonnenthron!
16. Und die Sonne, die jetzt Freuden ausgießt über alle Landen,
trifft die Christen laut noch jubelnd, den Apostel doch in Banden.
Lauter weinend sah sie jene, als sie wieder sank zu Thal,
doch ein selig sterbend Antlitz traf am Kreuz ihr letzter Strahl.
G. Rinkel.
19. *Zwei Schwestern.
1. Es läutet still im Waldesgrund
der Engelgruß zur Ruhestund';
da hört's im Hüttlein arm und klein
ein altgebücktes Mütterlein.
Und tief im Forste hoch zu Roß
die Fürstin hört's im Jägertroß,
und senkt den Speer und winkt zur Ruh'
und horcht so still dem Läuten zu.
2. Und aus dem Hüttlein wanket bald
die Ahne mühsam durch den Wald.
So achtzig Jahr, da geht sich's schwer,
und ohn' Gebet ging's nimmermehr.
Und hinter ihr in stolzem Hauf
zieht schimmernd hehr die Fürstin auf;
ein Page schlank den Zelter lenkt,
sie trägt gar fromm das Haupt gesenkt.
3. Und müde steht am Felsenhang
das Mütterlein und atmet lang;
und auf zum Kirchlein tief geneigt
sie wohl die hundert Staffeln steigt.
Und wie sie droben wankt durchs Thor,
da reitet hoch die Fürstin vor,
und neigt voll Zucht zum Pagen sich
und wallt hinauf so feierlich.