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III. Naturbilder.
sein kann, alle mehr als europäische, alle ethnologische Kenntnis der
Raffe kann nur durch Überschreiten der großen Wasser gewonnen
werden. Wie aber sind solche Erfahrungen der kontinentalen Lage
unserer nächsten Leimat notwendig! Wird, wer den offenbaren Gegen¬
satz und doch wiederum die tiefste Einheit der großen Weltreligionen
erfahren hat, noch Sinn haben für die begrenzten kirchlichen Streitereien
des Mutterlandes? Wird, wer die unendlich verschiedenen Formen
staatlichen Daseins auf Erden hindurch auf den Kern öffentlichen
Wesens achten gelernt hat, noch Wert legen auf die Außenseite der
staatlichen Repräsentation, die daheim so häufig das allgemeine Interesse
aufsaugt?
And wird ein solcher Beobachter nicht eben deshalb doch wiederum
die Form in ihrem rechten Werte zu schätzen wissen? Die deutsche
Leimat von heute will von jemand, der eine Reise tut, nicht mehr bloß
erzählt haben: sie bedarf seiner innersten Erfahrungen, und sie
beginnt, im Sinne Vielgereister zu leben.
ß. Beschreibende Prosa.
III. Naturbilder.
20. Die Poesie der Holsteinischen Leide.
Von Alfred Biese.
Auch an unserer Leide geht der Frühling nicht vorüber. Eis und
Schnee, die das Land weithin überdeckten, sind jetzt vollständig zerflossen,
die Erde ist wieder graugrün wie im Lerbst, ehe die ersten Schnee¬
flocken in der Luft tanzten.
And doch ist die Stimmung, die über die endlose Ebene aus¬
gegossen liegt, eine andere; denn im Frühlingssonnenschein sind die
Tinten im Landschaftsbilde lebhafter als in den verschwommenen
Lerbstnebeln, auch wenn der saftgrüne Frühlingstau noch fehlt. Der
Lerchentriller zittert in der Luft, hierorts der erste zuverlässige Bote
des Lenzes.
Die Natur hat ihre Reize über Schleswig-Lolstein in mannig¬
fachster Form ausgestreut. Voll reicher Anmut ist die Ostküste mit
ihren blauen Föhrden, mit ihren herrlichen Buchenwaldungen, ihren
üppigen Wiesen und Kornfeldern, ihren lieblichen Seen. Im Westen