Full text: Vaterländisches Lesebuch für untere und mittlere Klassen höherer Lehranstalten

28 Lekunda. I. Geschichtliche Darstellungen und Kulturbilder. 
gründe ging, ist noch nicht das bedeutendste Ergebnis dieses großartigen 
Unternehmens; weit folgenreicher als das negative war das positive 
Resultat. Es leidet kaum einen Zweifel, daß, wenn das Senatsregiment 
sein Scheinleben noch einige Menschenalter länger gefristet hätte, die 
sogenannte Völkerwanderung vierhundert Jahre früher eingetreten 
sein würde, zu einer Zeit, wo die italische Zivilisation sich weder in Galliett 
noch an der Donau, noch in Afrika und Spanien häuslich niedergelassen 
hatte. Indem der große Feldherr und Staatsmann Roms mit sicherem 
Blick in den deutschen Stämmen den ebenbürtigen Feind der römisch¬ 
griechischen Welt erkannte, indem er das neue System offensiver Ver¬ 
teidigung mit fester Hand selbst bis ins einzelne hinein begründete und 
die Reichsgrenzen durch Flüsse oder künstliche Wälle verteidigen, längs 
der Grenze die nächsten Barbarenstämme zur Abwehr der entfernteren 
kolonisieren, das römische Heer durch geworbene Leute aus den feind¬ 
lichen Ländern rekrutieren lehrte, gewann er der hellenisch-italischen 
Kultur die nötige Frist, um den Westen ebenso zu zivilisieren, wie der 
Osten bereits von ihr zivilisiert war. Gewöhnliche Menschen schauen 
die Friichte ihres Tuns; der Same, den geniale Naturen streuen, geht 
langsam aus. Es dauerte Jahrhunderte, bis mar: begriff, daß Alexander 
nicht nur ein Eintags-Königreich im Osten errichtet, sondern den Helle¬ 
nismus nach Asien getragen habe, wieder Jahrhunderte, bis man begriff, 
daß Cäsar nicht bloß den Römern eine neue Provinz erobert, sondern die 
Ronmnisiernng der westlichen Landschaften begründet habe. Auch von 
jenen militärisch leichtsinnigen und zunächst erfolglosen Zügen nach Eng¬ 
land und Deutschland haben erst die späteren Nachfahren den Sinn 
erkannt. Ein ungeheurer Völkerkreis, von dessen Dasein und Zuständen 
bis dahin kaum der Schiffer und der Kaufmann einige Wahrheit und viel 
Dichtung berichtet hatten, ward durch sie der römisch-griechischen Welt 
aufgeschlossen. „Täglich", heißt es in einer römischen Schrift vom Mai 
56, „melden die gallischen Briefe und Botschaften un§ bisher unbekannte 
Namen von Völkern, Gauen und Landschaften." Diese Erweiterung 
des geschichtlichen Horizonts durch Cäsars Züge jenseits der Alpen war 
ein weltgeschichtliches Ereignis so gut wie die Erkundung Amerikas 
durch europäische Scharen. Zu dem engen Kreis der Mittelmeerstaaten 
traten die mittel- und nordeuropäischen Völker, die Anwohner der Ost- 
und der Nordsee hinzu, zu der alten Welt eine neue, die fortan durch 
jene mitbestimmt ward und sie mitbestimmte. Es hat nicht viel gefehlt, 
daß bereits von Ariovist das durchgeführt ward, was später dem gotischen 
Theoderich gelang. Wäre dies geschehen, so würde unsere Zivilisation
	        
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