Nordische Götter- und Heldenlieder.
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9. Es steht ein Saal am Stamme des Baumes,
drei weise Jungfraun*) wohnen darin:
die eine heißt Urd, die andre Werdandi
— sie schlichen in Schindeln — Skuld ist die dritte;
des Lebens Lose legten sie fest
den Menschenkindern, der Männer Schicksal ....
10. Weit umher sah ich die Walküren^) komnien,
gerüstet zum Ritt in die Reihen der Helden;
Skuld hielt den Schild, Skogul folgte,
Gud, Hild, Gondul und Geirskogul.
Nun macht' ich euch kund die Mädchen Odins,
bereit, zur Erde den Ritt zu lenken.
11. Des Schicksals Schluß entschieden sah ich
für Odins Sohn, den edlen Baldr/)
hoch überm Boden erhob sich ragend
die schön gewachsne schlanke Mistel.
12. Aus diesem Zweige, der dünn aussah,
ward ein Schmerzenspfeil: seinen Schuß tat Hod/)
Doch Baldrs Bruder^) war bald erzeugt,
einnächtig kämpfte des Odin Sohn ....
13. Gebunden sah ich im bruchigen Hain
die Unheilsgestalt, den argen Loki?)
Dort sitzt SigynZ) versunken in Schmerz
ob dem Weh des Gatten — könnt ihr weitres verstehen? . . . .
14. Die Sonne wird schwarz, es sinkt die Erde ins Meer,
vom Himmel fallen die hellen Sterne;
es sprüht der Dampf und der Spender des Lebens/)
den Himmel beleckt die heiße Lohe ....
1) Es sind die drei Nornen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), welche das
Schicksal der Menschen bestimmen. — 2) Die Walküren: Odins Schlachtjungfrauen, welche die
Befehle des Gottes ausführen, seinen Schützlingen im Kampfe den Sieg verleihen und die
gefallenen Helden in den himmlischen Saal Walhall geleiten. — 3) Baldr (Baldur, d. h.
„Herr"), der Sohn Odins und der Frigg, ursprünglich eine Lichtgottheit, dessen Tötung durch
seinen Bruder Hod (Hödur) den Sieg der Finsternis über das Licht, des Winters über den
Sommer, symbolisch darstellte. Nachdem die alten Naturgötter auch zu Vertretern ethischer
Prinzipien ausgestaltet waren, ward Baldr der Gott der Gerechtigkeit, Reinheit und Unschuld.
Vgl. das folgende Lied d. — 1) Hod (Hödur), der blinde Bruder des Baldr, erschoß diesen
mit dem Mistelzweige, nachdem Loki den Bogen gerichtet und das Geschoß aufgelegt hatte.
Hod ist nach dem oben Gesagten geradezu als eine Personifikation des Winters zu betrachten;
der Name, welcher „Krieg" (vgl. Hadu in Hadubrand) bedeutet, kennzeichnet seinen Gegensatz
zu dem friedlichen Baldr. — 5) Baldrs Bruder: gemeint ist Walt, den Odin mit der Rind
erzeugt, um einen Rächer für Baldr zu schaffen. Kaum geboren („eine Nacht alt"), vollzieht
der Knabe die Rache, indem er den Hod erschlägt. — 6) Loki, der häufigste, aber zweifellos
jüngste Name des Gottes, der sonst auch Lodur und Loptr genannt wird. Er bedeutet „Schließer",
„Beender", da das Element, über welches Loki gebietet, das Feuer, nach germanischem Glauben
das Ende aller Dinge herbeiführt. Wegen der verderblichen Eigenschaften dieses Elements
(die wohltätigen treten in den Lokimythen seltener zutage) wird Loki dann überhaupt als Dämon
des Verderbens gefaßt, als derjenige, der alles Unheil über die Götter bringt. So trägt er
auch die Schuld an dem Tode Baldrs; zur Strafe dafür wird er jedoch von den Äsen ge¬
knebelt und kommt erst kurz vor dem Weltuntergang los. — 7) Sigyn: die Gemahlin Lokis.
— 8) Der Spender des Lebens, poetische Umschreibung des Feuers.