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jener Zeiten nicht, denn das, was die Geschichtsschreibung unserer Zeit
belebt uub ihren wahren Erfolg sichert, ist doch zuletzt eine lebendige
Anschauung, eine poetische Kraft, die angeboren sein muß und durch die
mühevollste Arbeit und Anstrengung nicht kann erworben werden.
Die Poesie ist das erste und einfachste und zugleich das großartigste
Mittel, welches dem Menschen verliehen wurde, um ein hohes Gefühl,
eine höhere Erkenntnis auszudrücken. Sie ist die Schatzkammer, in welche
ein Volk seinen geistigen Erwerb niederzulegen und zu sammeln pflegt.
Sie ist mehr gegen den Einfluß des Zufalls,, gegen gewaltsame oder
erkünstelte Einmischungen gesichert, als andere Äußerungen und Offen¬
barungen des menschlichen Geistes, die einen höheren Grad von Selbst¬
bewußtsein und eine kunstreichere Vorbereitung verlangen. Ihnen kann
das Fremdartige leichter ausgedrungen, ihre naturgemäße Entwicklung
gestört, ihre Richtung von einem äußeren, gewaltsamen Einfluß vor¬
geschrieben werden. Die bildenden Künste werden erst mühsam der Form
Meister und müssen lange Zeit in dem Zustande hilfloser Kinder ver¬
harren. Welche mannigfachen Kenntnisse müssen erworben, welche Schwie¬
rigkeiten beseitigt werden, bis der Augenblick kommt, wo der Baumeister
ein kühn ersonnenes Werk ausgeführt sieht! Welch eine lange Reihe von
Versuchen geht voraus, von mühsamen Beobachtungen, bis das Bild des
Menschen, das der Abglanz eines göttlichen ist und seine Abkunft ver¬
kündigen soll, die hemmenden Fesseln gesprengt hat, bis die Statue ihre
Glieder löst und in freier Bewegung aus dem Marmor oder Erz hervor¬
schreitet. Die Poesie, weil sie sich des einfachen, im Anfange gleich in
seiner Vollendung verliehenen Mittels, ich meine jenes Wunders, das in
der menschlichen Sprache liegt, bedient, weiß sich in allen verschiedenen
Graden und Abstufungen der Bildung auszudrücken und durch das
Einfache und Kunstlose, ebenso wie durch die reiche Pracht der kunst¬
reichsten Rede zu dem menschlichen Herzen zu reden. Das ist ihr wesent¬
licher Unterschied von den übrigen Künsten, der ihr eine größere Freiheit
und Ausdehnung zusichert.
Die Poesie ist lyrisch oder episch, denn die dramatische ist eine in
der Regel spätere Ausbildung der epischen und zieht von dieser ihre
Nahrung. Von der lyrischen rede ich hier nicht, sie wird kaum von
der Geschichte berührt, da sie die unvergänglichen, zu allen Zeiten wieder¬
kehrenden Gefühle des menschlichen Herzens ausspricht. Wie weit sie
über die ganze Erde ausgebreitet ist, sie erscheint in naher Verwandtschaft,
sie drückt etwas ans, das jedem verständlich ist, und die'Gesänge, in
welchen der in den Wäldern wandelnde Wilde eines fremden Hümnels-
strichs seine Gefühle ausströmen läßt, finden einen Anklang in der Brust
des Menschen, welchen die Kultur der Jahrhunderte auf eine hohe Stufe
gehoben hat.
Anders verhält es sich mit der epischen Dichtung: sie hängt ab, oder
vielmehr sie erwächst aus den verschiedenartigen Zuständen, in welche die
Geschichte ein Volk versetzt, oder, damit ich es in einem Wvrte selbst
ausdrücke, sie ist die erste und frühste Geschichte eines Volkes selbst.
Alles, was es erlebt hat, sei es nun in wirklichen Ereignissen oder in
dem, was der Geist ersonnen oder ausgedacht hat, oder was ihm aus