Full text: Deutsches Lesebuch für Tertia (Teil 4, [Schülerband])

L. Häusser: Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst. 355 
gefühl von Bürger und Bauer, auf deren Wohlfahrt der neue Staat 
fortan ruhte. So legte er die Grundlagen zu einer staatlichen Größe, 
die das erste Exempel dieser Art war, gründete das Heer, ordnete 
den Staatshaushalt, hob den Anbau des Landes, förderte Gewerbe 
und Handel, eröffnete dem bedrohten Protestantismus ein sicheres 
Asyl, pflegte Wissenschaft und Kunst in einer eigentümlich deutschen 
Richtung, während fast überall sonst das Volkstümliche vor dem 
Fremden weichen mußte. 
Indessen das Reich seinem völligen Verfalle entgegenging und 
gerade dies Aufstreben Brandenburg-Preußens mehr als alles andere 
dazu beitrug, die alte, freilich nur noch scheinbare Einheit des Reiches 
vollends auszulösen, gedieh in diesem jungen Staate alles, was von gesun¬ 
dem deutschen Stoffe vorhanden war, zur trefflichsten Entfaltung. In 
einem Augenblicke, wo Österreich und das deutsche Reich dem Über¬ 
greifen des französischen Einflusses ruhig zusahen, griff Friedrich 
Wilhelm zu den Waffen, und so klein seine Macht noch war, Deutsch¬ 
land hatte doch wieder einen Fürsten aufzuweisen, der sich gegen die 
den westfälischen Frieden verbürgenden Mächte in Respekt zu setzen 
verstand. In Zeiten, wo die alte Handels- und Seemacht Deutschlands 
verloren war und in den früheren weltgeschichtlichen Sitzen derselben 
fast die Überlieferung abzusterben drohte, suchte er die Gunst der Lage 
Preußens an der See rührig zu benutzen, um den Grund zu einer 
Flotte zu legen, die Anfänge einer Kolonialmacht zu schaffen und auf 
der Ostsee, deren Herrschaft damals unter den nordischen Mächten der 
Preis eines noch unausgefochtenen Kampfes war, sein Übergewicht zu 
begründen. Friedrich Wilhelm erhob sich zuerst wieder — und zwar 
in Zeiten, wo Ludwigs XIV. Macht noch ungebrochen war — zu dem 
kühnen Gedanken, die Fremden vom deutschen Boden zu vertreiben; 
er folgte dabei zunächst seinem eigenen brandenburgischen Interesse, 
allein es waren dies doch zugleich die wichtigsten Ausgaben einer 
deutsch-nationalen Politik, die er mit einem Glanze wie keiner seiner 
deutschen Zeitgenossen aufgenommen hat. 
Erfüllte Friedrich Wilhelm in dieser Haltung nach außen seine 
deutsche Fürstenpflicht gewissenhafter und ehrenvoller als irgend ein 
Reichsstand, den Kaiser nicht' ausgenommen, so ist doch in der 
Art, wie er die Dinge anschaut und seine eigene Stellung beurteilt, 
eine bemerkenswerte Veränderung gegen die frühere Zeit eingetreten. 
Richt sowohl als Glied des Reiches oder gar als Unterthan des 
Kaisers, am wenigsten aus Anhänglichkeit an Habsburg wendet der 
große Kurfürst seine Waffen gegen Schweden und Franzosen, sondern 
in dem Bewußtsein eines selbständigen Fürsten, dessen brandenburgisch- 
preußisches Interesse nach außen allerdings mit dem des gesamten 
Reiches vollkommen übereinstimmte. Aber die alte Überlieferung des 
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