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A. Epische Poesie. Vili. Allegorien. IX. Elegien.
20. Der Königssohn verwegen
That mit drei Jägern ziehn,
Sie hieben mit dem Degen
Sich Bahn zum Schlosse hin.
Gesenkt war die Brücke,
Geöffnet war das Thor,
Daraus im Augenblicke
Ein Hirschlein sprang hervor.
21. Denn in des Hoses Räumen,
Da war es wieder Wald,
Da sangen in den Bäumen
Die Vögel mannigfalt.
Die Jäger ohn' Verweilen,
Sie drangen mutig hin,
Wo eine Thür mit Säulen
Aus dem Gebüsch erschien.
22. Zween Riesen schlafend lagen
Wohl vor dem Süulenthor,
Sie hielten, ins Kreuz geschlagen,
Die Hellebarten vor;
Darüber rüstig schritten
Die Jäger allzumal,
Sie gingen mit kecken Tritten
Zu einem großen Saal.
23. Da lehnten in hohen Nischen
Geschmückter Frauen viel,
Gewappnete Ritter dazwischen
Mit goldnem Saitenspiel:
Hochmüchtige Gestalten,
Geschloss'nen Auges, stumm,
Grabbildern gleich zu halten
Aus grauem Altertum.
24. Und mitten ward erblicket
Ein Lager reich von Gold,
Da ruhte, wohlgeschmücket,
Eine Jungfrau wunderhold.
Die Süße war umfangen
Mit frischen Rosen dicht,
Und auch von Mund und Wangen
Schien zartes Rosenlicht.
25. Der Königssohn, zu wissen,
Ob Leben in dem Bild,
Thät seine Lippen schließen
An ihren Mund so mild.
Er hat es bald empfunden
Am Odem, süß und warm,
Und als sie ihn umwunden,
Noch schlummernd, mit dem Arm.
26. Sie streifte die goldnen Locken
Aus ihrem Angesicht;
Sie hob, so süß erschrocken,
Ihr blaues Augenlicht.
Und in den Nischen allen
Erwachen Ritter und Frau,
Die alten Lieder hallen
Im weiten Fürstenbau.
27. Ein Morgen rot und golden
Hat uns den Mai gebracht;
Da trat mit seiner Holden
Der Prinz aus Waldesnacht.
Es schreiten die alten Meister
In hehrem, stolzem Gang
Wie riesenhafte Geister,
Mit fremdem Wundersang.
28. Die Thäler schlummertrunken
Weckt der Gesänge Lust;
Wer einen Jugendfunken
Noch hegt in seiner Brust,
Der jubelt, tief gerühret:
„Dank dieser goldnen Früh',
Die uns zurückgeführet
Dich, deutsche Poesie!"
29. Die Alte sitzt noch immer
In ihrem Kämmerlein;
Das Dach zerfiel in Trümmer,
Der Regen drang herein;
Sic zieht noch kaum den Faden,
Gelähmt hat sie der Schlag;
Gott schenk' ihr Ruh in Gnaden
Bis über den jüngsten Tag!