Full text: [Abteilung 6 = Für Unter-Sekunda, [Schülerband]] (Abteilung 6 = Für Unter-Sekunda, [Schülerband])

vorgeschlagenen Kanons auswendig zu lernender Gedichte. 
373 
Der Ring des polykrates. (Um 530 v. Chr.) 
Bon Friedrich Schiller. 
1. Er stand auf seines Daches Zinnen, 
Er schaute mit vergnügten Sinnen 
Auf das beherrschte Samos hin. 
„Dies alles ist mir unterthänig," 
Begann er zu dlgyptens Könige 
„Gestehe, daß ich glücklich bin!" — 
9. Das hört der Gastfreund mit Entsetzen. 
„Fürwahr, ich muß dich glücklich schätzen! 
Doch," spricht er, „zittr' ich für dein Heil. 
Mir grauet vor der Götter Neide; 
Des Lebens ungemischte Freude 
Ward keinem Irdischen zu teil. 
2. „Du hast der Götter Gunst erfahren! 
Die vormals deinesgleichen waren, 
Sie zwingt jetzt deines Scepters Macht. 
Doch einer lebt noch, sie zu rächen; 
Dich kann mein Mund nicht glücklich sprechen, 
Solang' des Feindes Auge wacht." 
3. Und eh' der König noch geendet, 
Da stellt sich, von Milet gesendet, 
Ein Bote dem Tyrannen dar: 
„Laß, Herr, des Opfers Düste steigen, 
Und mit des Lorbeers muntern Zweigen 
Bekränze dir dein festlich Haar! 
10. Auch mir ist alles wohl geraten, 
Bei allen meinen Herrscherthaten 
Begleitet mich des Himmels Huld; 
Doch hatt' ich einen teuern Erben, 
Den nahm mir Gott'; ich sah ihn sterben, 
Dem Glück bezahlt' ich meine Schuld. 
11. Drum, willst du dich vorLeid bewahren, 
So flehe zu den Unsichtbaren, 
Daß sie zum Glück den Schmerz verleihn. 
Noch keinen sah ich fröhlich enden, 
Auf den mit immer vollen Händen 
Die Götter ihre Gaben streun. 
4. Getroffen sank dein Feind vom Speere; 
Mich sendet mit der frohen Märe 
Dein treuer Feldherr Polydor —" 
Und nimmt aus einem schwarzen Becken, 
Noch blutig, zu der beiden Schrecken, 
Ein wohlbekanntes Haupt hervor. 
5. Der König tritt zurück mit Grauen. 
„Doch warn' ich dich, dem Glück zu trauen," 
Versetzt er mit besorgtem Blick. 
..Bedenk', ans ungetreuen Wellen — 
Wie leicht kann sie der Sturm zerschellen! — 
Schwimmt deiner Flotte zweifelnd Glück." 
6. Und eh' er noch das Wort gesprochen, 
Hat ihn der Jubel unterbrochen, 
Der von der Reede jauchzend schallt: 
Mit fremden Schätzen reich beladen, 
Kehrt zu den heimischen Gestaden 
Der Schiffe mastenreicher Wald. 
7. Ter königliche Gast erstaunet: 
„Dein Glück ist heute gut gelaunct, 
Doch fürchte seinen Unbestand. 
Der Kreter waffenkund'ge Scharen 
Bedräuen dich mit Kriegsgefahren; 
Schon nahe sind sie diesem Strand." 
8. Hub eh' ihm noch das Wort entfallen, 
Da sieht man's von den Schiffen wallen, 
Und tausend Stimmen rufen: „Sieg! 
Von Feindesnot sind wir befreiet, 
Die Kreter hat der Sturm zerstreuet, 
Vorbei, geendet ist der Krieg!" 
12. Und wenn's die Götter nicht gewähren, 
So acht' auf eines Freundes Lehren 
Und rufe selbst das Unglück her; 
Und was von allen deinen Schätzen 
Dein Herz am höchsten mag ergötzen, 
Das nimm und wirf's in dieses Meer!" 
13. Und jener spricht, von Furcht beweget: 
„Von allem, was die Insel heget, 
Ist dieser Ring mein höchstes Gut. 
Ihn will ich den Erinnen weihen, 
Ob sie mein Glück mir dann verzeihen" — 
Und wirft das Kleinod in die Flut. 
14. Und bei des nächsten Morgens Lichte, 
Da tritt mit fröhlichem Gesichte 
Ein Fischer vor den Fürsten hin: 
„Herr, diesen Fisch hab' ich gefangen, 
Wie keiner noch ins.Netz gegangen; 
Dir zum Geschenke bring' ich ihn." 
15. Und als der Koch den Fisch zerteilet, 
Kommt er bestürzt herbeigeeilet 
Und ruft mit hocherstauntem Blick: 
„Sieh, Herr, den Ring, den du getragen, 
Ihn fand ich in des Fisches Magen; 
O, ohne Grenzen ist dein Glück!" 
16. Hier wendet sich der Gast mit Grausen: 
„So kann ich hier nicht ferner hausen, 
Mein Freund kannst du nicht weiter sein. 
Die Götter wollen dein Verderben; 
Fort eil' ich, nicht mit dir zu sterben." 
Und sprach's und schiffte schnell sich ein.
	        
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