56 A. Erzählende Prosa. I. Geschichtliche Darstellungen.
Zeit als der alleinige Ausfluß der Thätigkeit seiner Berater; in seiner
Seelengröße erkannte er nicht nur neidlos ihre Verdienste an, sondern
ließ willig ihnen zuschreiben, was sein Werk war, in der seligen Be¬
ruhigung, seine Pflicht erfüllt zu haben, auch wenn die Welt es nicht
wußte. Wohl wichen hier und da seine Anschauungen und Meinungen
von denen seiner Berater ab, aber willig überwand er die eigenen
Wünsche und Gewissensbedenken, wenn ihm die Notwendigkeit klar
ward. Hatte er sich entschieden, und mochte die Entscheidung ihm noch
so schwer fallen, dann war er aber auch entschlossen im Handeln und
Durchführen. Als im Jahre 1866 der Erzbischof von Köln, Melchers,
dem Könige in einem Briefe von dem Kriege abriet, der nur der
Revolution jenseits der Alpen in die Hände arbeiten werde, und aus
sonstige Bedenken gegen denselben hinwies, setzte der König ihm die
politische Sachlage in einer Antwort auseinander und zeigte ihm, wie
er alle Mittel versucht habe, um einen Krieg zu vermeiden. „Ich habe
mit meinem Gott im Gebet gerungen, um Seinen Willen zu erkennen,
und nur so habe ich Schritt vor Schritt, Preußens Ehre im Auge
haltend, nach meinem Gewissen gehandelt." Als dann der Krieg zur
Notwendigkeit geworden war, rief er aus: „Ich weiß, sie sind alle
gegen mich! Aber ich werde selbst an der Spitze meiner Armee den
Degen ziehen und lieber untergehen, als daß Preußen diesmal nachgiebt."
ck) Seine Pflichttreue.
Wenn Wilhelm I. die verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte der
Krone mit aller Entschiedenheit wahrte, so that er dies nicht seiner
selbst willen, sondern des Wohles des Volkes wegen, in dessen Interesse
er sich selbst im Greisenalter keine Bequemlichkeit, keine Muße gönnte.
Allezeit war er im Dienste des Staates thätig; denn wie Gottvertrauen
und Frömmigkeit die Quellen waren, aus deren unversiegbarem Wasser
er seine Seele erquickte, so gab das Pflichtbewußtsein seinem alternden
Körper stets wieder neue Spannkraft. Sein ganzes Leben war eine
Bethätigung des Gelübdes des Knaben: „Jeden Tag will ich mit dem
Andenken an Gott und meine Pflicht beginnen und jeden Abend mich
über die Anwendung des verflossenen Tages prüfen." Immer im
Dienste der Pflicht, kannte Kaiser Wilhelm I. kein Stillsitzen ohne
Beschäftigung, kein Aufsuchen einer Bequemlichkeit, keine Schonung seiner
eigenen Person.
Seinen Anlagen und seinen Neigungen nach war Kaiser Wilhelm
Soldat vom Scheitel bis zur Sohle. Sein Werk ist die siegreiche
Armee Preußens; ihr galt sein Sinnen und Denken, sein Sorgen und
sein Schaffen von der frühesten Zeit seines Jünglingsalters an. In
ihren Dienst hatte er lange Jahrzehnte seine Feder gestellt gehabt,
deren Erzeugnisse den Stempel seiner ganzen Persönlichkeit tragen: