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VIII. Briefe.
II.
Weimar, nach Weihnachten 1806.
... Er (Goethe) ist ein unbeschreibliches Wesen; das höchste wie
das Kleinste ergreift er. So saß er den ersten Feiertagabend eine lange
Weile im letzten Zimmer mit Adelen (Johanna Schopenhauers Tochter)
und der jüngsten Conia, einem hübschen, unbefangenen, sechzehnjährigen
Mädchen. Wir sahen von weitem der lebhaften Konversation zwischen
den dreien zu, ohne sie zu verstehen; zuletzt gingen alle drei hinaus
und kamen lange nicht wieder. Goethe war mit den Kindern in Sophiens
Zimmer gegangen, hatte sich dort hingesetzt und sich Adelens Herrlich¬
keiten zeigen lassen, alles Stück vor Stück besehen, die Puppen nach
der Reihe tanzen lasten und kam nun mit den frohen Kindern und
einem so lieben, milden Gesicht zurück, wovon kein Mensch einen Be¬
griff hat, der nicht die Gelegenheit hat, ihn zu sehen, wie ich. Ihn freut
alles, was natürlich und anspruchslos ist, und nichts stößt ihn schneller
zurück als Prätension . . . Mit einem Male kam man, ich weiß nicht
wie, dort auf den Einfall, der Bardna (eine Malerin), die sich ohnehin
leicht graut, mit Gespenstergeschichten Angst zu machen. Goethe stand
gerade hinter mir. Mit einem Male machte er ein ganz ernsthaftes
Gesicht, drückte mir die Land, um mich aufmerksam zu machen, und
trat nun gerade vor die Bardna und fing eine der abenteuerlichsten
Geschichten an, die ich je gehört; daß er sie aus der Stelle ersann, war
deutlich; aber wie sein Gesicht sich belebte, wie ihn seine eigne Erfindung
mit fortriß, ist unbeschreiblich. Er sprach von einem großen Kopf, der
alle Nacht oben durchs Dach sieht; alle Züge von dem Kops sind tu
Bewegung; man denkt die Augen zu sehen, und es ist der Mund, und
so verschiebt sich's immer, und man muß immer hinsehen, wenn man
einmal hingesehen hat. And dann kommt eine lange Zunge heraus, die
wird immer länger und länger, und Ohren, die arbeiten, um der Zunge
nachzukommen, aber die können's nicht. Kurz, es war über alle Be¬
schreibung toll, aber von ihm muß man's hören und besonders ihn
dazu sehen. So ungefähr muß er aussehen, wenn er dichtet . . .
Johanna Schopenhauer.
77. Brief Moltkes an seine Braut.
Laß Dir's gesagt sein, gute Marie, daß Freundlichkeit gegen jeder¬
mann die erste Lebensregel ist, die uns manchen Kummer sparen kann,
und daß Du selbst gegen die, die Dir nicht gefallen, verbindlich sein