Full text: Gedichtsammlung aus den letzten 150 Jahren deutscher Dichtung (Teil 3, [Schülerband])

Heine — Herder. 
163 
6. Epheu rankt an dem Balköne, 
Wo die schöne Dame stand, 
Die den stolzen Überwinder 
Mit den Augen überwand. 
1824. 
7. Ach! den Sieger und die Siegrin 
Hat besiegt des Todes Hand — 
Jener dürre Sensenritter 
Streckt uns alle in den Sand. 
Werke. I, S. 128 f. 
Gottfried Herder. 
205. Der gerettete Jüngling. 
Eine schöne Menschenseele finden 
Ist Gewinn; ein schönerer Gewinn ist, 
Sie erhalten, und der schönst' und schwerste, 
Sie, die schon verloren war, zu retten. 
s Sankt Johannes, aus dem öden Patmos 
Wiederkehrend, war, was er gewesen, 
Seiner Herden Hirt. Er ordnet' ihnen 
Wächter, auf ihr Innerstes aufmerksam. 
In der Menge sah er einen schönen 
w Jüngling; fröhliche Gesundheit glänzte 
Vom Gesicht ihm, und aus seinen Augen 
Sprach die liebevollste Feuerseele. 
„Diesen Jüngling", sprach er zu dem 
Bischof, 
„Nimm in deine Hut! Mit deiner Treue 
^Stehst du mir für ihn! Hierüber zeuge 
Mir und dir vor Christo die Gemeine!" 
Und der Bischof nahm den Jüngling 
Zu sich, 
Unterwies ihn, sah die schönsten Früchte 
In ihm blühn, und weil er ihm ver¬ 
traute, 
so Ließ er nach von seiner strengen Aufsicht. 
Und die Freiheit war ein Netz des Jüng¬ 
lings. 
Angelockt von süßen Schmeicheleien, 
Ward er müßig, kostete die Wollust, 
Dann den Reiz des fröhlichen Betruges, 
25 Dann der Herrschaft Reiz; er sammelt' 
um sich 
Seine Spielgesellen, und mit ihnen 
Zog er in den Wald, ein Haupt der Räuber. 
Als Johannes in die Gegend wieder 
Kam, die erste Frag' an ihren Bischof 
so War: „Wo ist mein Sohn?" „Er ist 
gestorben! “ 
Sprach der Greis und schlug die Augen 
nieder. 
„Wann und wie?" — .,Er ist Gott ab¬ 
gestorben, 
Ist, mit Thränen sag' ich es, ein Räuber. “ — 
„Dieses Jünglings Seele", sprach Jo¬ 
hannes, 
35 „Fordr' ich einst von dir. Jedoch, wo 
ist er?" 
„Aus dem Berge dort." — „Ich muß 
ihn sehen." 
Und Johannes, kaum dem Walde nahend, 
Ward ergriffen; eben dieses wollt' er. 
„Führet", sprach er, „mich zu eurem 
Führer!" 
W Vor ihn trat er, und der schöne Jüngling 
Wandte sich; er konnte diesen Anblick 
Nicht ertragen. „Fliehe nicht, o Jüngling, 
Nicht, o Sohn, den waffenlosen Vater, 
Einen Greis! Ich habe dich gelobet 
45 Meinem Herrn und muß für dich ant¬ 
worten. 
Gerne geb' ich, willst du es, mein Leben 
Für dich hin; nur dich fortan verlaffen 
Kann ich nicht! Ich habe dir vertrauet, 
Dich mit meiner Seele Gott verpfändet." 
50 Weinend schlang der Jüngling seine Arme 
Um den Greis, bedeckete sein Antlitz 
Stumm und starr; dann stürzte statt der 
Antwort 
Aus den Augen ihm einStrom von Thränen. 
Auf die Kniee sank Johannes nieder, 
55 Küßte seine Hand und seine Wange, 
Nahm ihn neugeschenket vom Gebirge^ 
Läuterte sein Herz mit süßer Flamme. 
Jahre lebten sie dann unzertrennet 
Miteinander; in den schönen Jüngling 
60 Goß sich ganz Johannes' schöne Seele. — 
11*
	        
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