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Schatze aus, denn das Geben war ihre einzige Freude. Kein
Wunder, daß, von dem Rufe ihrer Freigebigkeit angezogen, mancher
Necke, den man noch nicht zu Worms gesehen hatte, in das Land
kam und sich der Königin zu Dienst verpflichtete. Das konnte
Hagen nur ungern sehen, und mißmutig sprach er zu Günther:
„Lassen wir Kriemhild noch eine Weile so fortfahren, so wird sie
sich so viele Helden zu Dienst verpflichten, daß uns einst unsere
Nachsicht reuen wird, weil wir den Schaden davon haben werden."
Günther sprach: „Das Gold gehört ihr, und ich habe kein Recht,
ihr vorzuschreiben, was sie damit thun soll. Soll ich sie mir schon
wieder zur Feindin machen, nachdem ich kaum mit vieler Mühe
ihre Verzeihung gewonnen habe?" Hagen entgegnete: „Ein kluger
Mann läßt einem Weibe nicht die Verwaltung so großen Schatzes.
Zu spät werdet ihr einsehen, daß ich recht habe, und dann werdet
ihr bereuen, daß ihr mir nicht geglaubt habt." Der König aber
sprach: „Ich habe ihr einen Eid geschworen, daß ich ihr nimmer
wieder Leid zufügen wolle. Den will ich halten. Zudem ist sie
ja auch meine Schwester." Hagen, zu allem bereit, erwiderte:
„So laßt nur mich den Schuldigen sein."
Bald führte Hagen auch aus, was er sich jetzt vorgenommen
hatte, trotz des Königs Abmahnen. Er verschaffte sich die Schlüssel
zum Schatze und damit die Gewalt über den Schatz selbst. Als
Gernot diese neue Ungerechtigkeit, die man an seiner Schwester be¬
gangen, erfuhr, zürnte er sehr, und der junge Giselher sprach:
„Hagen hat unserer Schwester schon so vieles Leides angethan, daß
wir dem wohl endlich einmal Einhalt thun müssen. Wäre er nicht
mein Vetter, — wahrhaftig, es ginge ihm an das Leben." Gernot
aber meinte, es wäre am besten, wenn der ganze Schatz in die
Tiefe des Rheins versenkt würde, so gehörte er doch niemand mehr
an, und man hätte endlich Ruhe.
Kriemhild weinte von neuem über das, was man ihr gethan
hatte. In ihrer Rot wußte sie sich an keinen andern, als an
ihren lieben Bruder Giselher, der immer so freundlich gegen sie
war, zu wenden, und zu ihm sprach sie: „Viel lieber Bruder, sei
du mein Beschützer; ich weiß sonst nicht, an wen ich mich wenden
soll." Dieser antwortete ihr: „Gern will ich dein Beschützer sein;
jetzt aber muß ich fort, den König auf einer Kriegsfahrt zu be¬
gleiten."
Der König und seine Verwandten nebst ihren besten Freunden
machten sich auf die Kriegsfahrt; nur Hagen blieb um des Hasses
willen, den er gegen die Königin Kriemhild trug, zurück. Ehe die
Könige zurückkehrten, ließ er den ganzen Schatz in den Rhein ver¬
senken. Als die Fürsten aber wieder kamen, begann Kriemhild
ihnen ihr neues Leid zu klagen. Da wurden die Fürsten zornig