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61- Goethes Lyrik.
steht, in der Zartheit der Linienführung und des Kolorits, die alles Eckige
und Harte meidet, in der geschickten Kontrastierung, die jede einzelne Farbe
kräftiger heraushebt, in der knappen Lebendigkeit, mit der eine Situation sich
vor uns auftut und entwickelt, in der sicheren Gegenständlichkeit, mit der
5 er alles vor uns hinstellt.
Die Forderung, die Goethe an den Dichter stellt: „Bilde Künstler, rede
nicht, nur ein Hauch sei dein Gedicht!" verstand er herrlich zu erfüllen. Am
glänzendsten für die Natur, deren Sohn, Freund, Geliebten er sich frühzeitig
nennt, deren charakteristische Züge, deren geheimstes Leben und Weben er
10 schaute und fühlte. Mit ihr konnte er verständnisinnige Zwiesprache halten,
ob er in Feld oder Garten, in Wald oder Höhle, im holden Tal oder auf
schneebedeckten Höhen sich ihr nahte. „Die ganze Natur, jeder Grashalm
redet zu ihm!" Wir haben seine Naturbilder oft zu bewundern Gelegenheit;
am bewunderungswürdigsten aber sind sie doch in der Lyrik, wo die Enge
15 des Raumes ihn herausforderte, das Höchste mit den beschränktesten Mitteln
zu leisten. Mit wenigen Zügen, oft nur mit einem einzigen („Füllest wieder
Busch und Tal still mit Nebelglanz") zeichnet er Himmel und Erde, Meer
und Gebirge, Bach und Strom, Wiese und Wald in den mannigfaltigen
Stimmungen der Luft, des Tages, der Jahreszeiten so deutlich, daß wir sie
20 greifbar vor uns sehen.
Endlich kommt gerade Goethes Dichtung und Prosa die Wortmusik
in besonderem Maße zu. Fragen wir: warum? so können wir daraus nur
antworten: weil er die größte Harmonie des Geistes besaß, der sich alles
zusammenstimmend ordnete. Die Goethesche Geistesharmonie bildet sich im
25 Sprachkleide entsprechenden Ausdruck durch die Wortwahl (Stärke und Milde,
sinnliche Kraft des Ausdrucks) und den Wortfall, der in der Prosa sich in der
Rhythmik des Satzbaus zeigt. In der Poesie kommen als unterstützende
Elemente hinzu Vers- und Strophenbau, häufig auch der Reim, selten die
Alliteration. u
30 Die Fülle der Formen, zu denen Goethe beim Vers- und Strophenbau
greift, entspricht nahezu der Fülle von Motiven und Stimmungen, die seine
Lyrik vor uns ausbreitet. Er erprobte die geläufigsten Formen, die die
deutsche Literatur vom 16.—18. Jahrhundert hervorgebracht hatte, schritt
weiter zu den Alten, von diesen zu den Romanen/) um endlich auch orien-
35 talische Rhythmen sich tributpflichtig zu machen. Aber alle überlieferten und
alle neu erfundenen Formen gestaltete er frei nach dem Genius der Sprache
1) Stanze, Sonett, Terzine.