69. Tempel und Kathedrale.
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Hymnus singen. Aber in Wahrheit war das Leben im Athen des Perikles
sehr ernst, und es würde heute wenige geben, die es freiwillig teilen möchten.
Der Hauptton, auf den es im 5. Jahrhundert gestimmt war, ist der tragische,
wie ihn Äschylos am vernehmlichsten angeschlagen hat: es gibt keinen andern
Zugang zu den übermächtigen und launischen Göttern als die Demut. Für
Demütige ist auch der weiße Tempel gebaut. Aus dem Orient kamen wohl
heiße Kulte, und bisweilen drangen sie, wie in Korinth, auch in Griechenland
ein. Aber die griechische Religion hat überall das Herbe, das Gebundene
betont, und nichts ist so bezeichnend für den Gedanken der gebundenen Kraft,
der verhaltenen Fülle, als die dorische Säule.
Ohne Polster und Basis schießt der Schaft aus der Erde, dem Baume
gleich, der vornehm die festen Wurzeln versteckt. Die zwanzig Kannelüren
der Marmortrommeln reden von verhaltener Kraft, von der Restriktion des
Trägers. Die Enthasis ist der äußerste Ausdruck des Tragens und elastischen
Federns. Wunderbar, daß sie zugleich eine optische Notwendigkeit ist: die
nicht geschwellte Säule scheint eine Taille zu haben, so stark frißt das Licht
an der Mitte ihrer Ränder. Die Stelle oben am Hals, wo die Riemen sitzen,
ist die heißeste der Säule; unmittelbar darauf folgt das breite, dicke Entladen
der Massen im Echinus, der bei den ältesten Tempeln (Paestum) wirklich
kuchenförmig ausquillt. Aber dann wird aus dieses runde warme Kissen die
kühle viereckige Platte gelegt, gewissermaßen ein neutrales, vermittelndes
Stück, auf dem die schwere Last des Architravs, des Hauptbalkens, mit wunder¬
voller Rücksichtslosigkeit aufliegt. Alles an dieser Säule ist Bewegung, Ein¬
ziehung, Aufschießen, Ausbiegung, tapfere Angst und frohes Bangen — im
Dienste fühlt sie ihre Kraft, und das Schwerste lockt ihre höchste Anspannung.
Aber es herrscht auch nicht die mindeste Täuschung. Es wird nicht behauptet,
daß das Tragen leicht sei. Die Kleinasiaten, die gern Theater spielten, haben
derartiges in ihrer eleganten jonischen Säule behauptet, die zwischen zwei
elastischen Polstern federt wie ein Stückchen. Die frommen Griechen machten
diese Lüge nicht mit. Ihre Redeweise war ernst und ihr Sinn schwerblütig.
Wie alle Küstenvölker, so sahen auch sie in der Natur mehr das Feindliche
als das Gütige.
4.
Die gotische Kathedrale ist kein Parterrebau, sondern ein Hochbau;
deshalb liegt sie nicht auf dem Bergesgipfel, wo sie nur wie eine kleine Flamme
wirken würde, sondern tief im Häuscrgewirr drin. Ihre Höhe wird gerade
dadurch fühlbar, daß sie sich aus dem Getümmel kleiner Dächer und dem
Gewirr enger Straßen riesenhaft heraushebt. Man hat den ursprünglichen
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