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6S. Tempel und Kathedrale.
Sinn verkannt, als man anfing, den Kölner Dom freizulegen und andre
Säuberungen vorzunehmen, die die lieben alten Kirchen um ihr schönstes
Geflüster gebracht haben. In Straßburg kann man es noch gut nacherleben,
wie stark die Überraschung des Münsters im Straßengewirr wirkt, wie riesig
5 nach all dem Tausendteiligen der stolze Bau sich bietet. Es liegt in dieser
Anlage eine seltene Mischung von Vertraulichkeit und Ehrerbietung, daß man
das Gotteshaus ganz nahe bei sich, „nebenan" haben wollte, obwohl man es
in: Maßstab über alles Sonstige hinaushob.
Der Bau der gotischen Kathedrale ist ein Hochbau nicht nur im Sinne
10 mehrerer Etagen, sondern weil alles an ihm in die Höhe will. Die antike
Säule ist ein plastischer, in sich geschlossener vertikaler Körper, auf dem
ebenso abgeschlossen das horizontale Gebälk ruht. Die Gegensätze tragen sich.
Man kann die Säule nicht verlängern und den Balken nicht verdicken; beide
haben ihr definitives Maß. Dagegen ist der gotische Pfeiler etwas Un-
15 begrenztes, der nach oben ohne Grenze aufschießt und ohne Naht in den Bogen
übergeht, der sich langsam abwölbt. Nichts ist hier plastisches Behagen und
körperliche Ruhe, alles ist Drang, Geste, Hinausdrängen, Entschluß ohne Ende.
In dem Stein lodert das Feuer; brennend muß er in die Höhe zum schwin¬
delnden Bogen. Alle Kraft gehört diesen Pfeilern; die Wand daneben ver-
20 schwindet und befreit sich vom Stoff im Glasfenster. Von den Pfeilern
springen die Bogenrippen mit scharfer Wildheit ab; ihre Füllung, die Gewölbe¬
busen sind Scheinwerk, die nicht einmal das Gewicht eines Menschen aus¬
halten, der darüber wandern wollte. Es bleibt nicht beim einfachen Pfeiler;
Bündel von Diensten stellen sich Rücken an Rücken und gehen gemeinsam in
25 die Höhe. Ein Wald von Stützen; keine Füllung. Der Schärfe der Leistung
entsprechen die Profile; nicht schwerfällige gemütliche Wulste, sondern rassige
Profile, mit straffer Restriktion. Diese hohen Spannungen sind keine Kleinig¬
keit; der Stein muß sein Letztes hergeben. Es ist bekannt, daß die gotischen
Steinmetzen treffliche Rechner waren. Sie suchten die letzte Formel für die
30 kühnste Statik; jede Krastansammlung, die schlief, schien ihnen ein Verbrechen.
Schließlich wurde alles Träger; getragen aber wurde kaum noch, jedenfalls keine
Schwere, nur die Höhe. Statt der Säulen, die einen niedrigen Steinwürfel
ummanteln, steht hier ein Wald von höchsten Pfeilern ohne Wände vor uns;
selbst die Steinrippen, welche die Glasfenster halten, sind filigranartig durch-
35 locht und gelockert.
Tritt man durch die weit ausladenden Portale in die Schiffe der
gotischen Kathedrale, so erscheinen sie sehr schmal, weil sie sehr hoch sind.
Die Pfeiler geleiten uns zur Vierung, wo die schöne Kreuzung der Schisse