Full text: [Teil 9 = Klasse 1, [Schülerband]] (Teil 9 = Klasse 1, [Schülerband])

69. Tempel und Kathedrale. 
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zum Spiel der Höhe das Spiel der Winkel hinzubringt. Und nun stehen wir 
vor dem eigentlichen Mysterium, dem Chor mit dem Chorumgang und den 
Chorkapellen, mit den Priesterzerenwnien und den Laiengebeten, mit den 
Monumenten der Toten unb dem Hochamt der Lebenden. Es ist eine kleine 
heilige Stadt hier lebendig. Menschemvort und Heiligenbild, Bronzekruzifir 
und Wollpurpur klingen zusammen. Vor den Särgen der Ahnen kauern die 
Enkel, und auch der Verwaiste findet das gütige Ohr einer himmlischen Frau. 
Diese Kapellen sind vor allem der Platz stiller Gebete. Die gotische Kathedrale 
hat viele kleine Kapellen und kleine Lichter, wo ein unruhiges Menschenherz 
sich sammeln und still mit der Ewigkeit sich besprechen kann. 
5. 
Einen Griechen würde an einem gotischen Dom nichts so sehr über¬ 
raschen und verdrießen als das Tausendteilige seiner äußeren Silhouette. 
Er ist gewohnt, einen massiven Würfel mit massiven Säulen zu umstellen 
und die Feierlichkeit des Gebäudes durch die Schwere der lastenden Wucht 
auszudrücken. Eben diese Schwere der Materie hindert auch, daß sich dieser 
Bau aus der gedrückten Lage erhebe. Alles ist wie gepanzert, streng ver¬ 
schlossen. Alles schützt sich gegenseitig, so daß keine fressende Kraft der Nässe 
oder des Windes etwas abbröckeln und abnagen kann. Dagegen betragen die 
Reparaturkosten des Kölner Domes im normalen Jahr 40 000 Mark! In 
tausend Seiten blättert sich die Fassade der Gotik auf, und der Architekt hat 
Mühe, mit den großen Hauptmotiven der Rosette und der Königsgalerie das 
vielstimmige Gewirr all der Formen zu bändigen. Der Kranz der Chor¬ 
kapellen bietet von außen den Anblick tiefgefurchter Flächen und unterschnittener 
Massen. Jeder Turm nimmt an dem Gezacke teil; in scharfem Profil springt 
an den Wasserschlägen seine Masse zurück. Je höher der Bau steigt, desto 
freier werden die Grate und Figuren. An der Dachrinne schießen plötzlich 
wilde Fabelwesen heraus; die bösesten Wichte des Waldes speien hier fromm 
das Wasser des Himmels. Und steigen wir an dem ganz entstofflichten, 
durchbrochenen Filigranhelm des Frontturmes — ich denke an Freiburg — 
in die Höhe, so finden wir auf der obersten Spitze eine Kreuzblume, die ihreu 
Kelch nicht zur Erde, sondern nach oben in den Himmel öffnet. Muß man 
da nicht daran denken, daß die Gotik eine fromme Kunst war, und daß die 
Steinmetzen ihre Figuren und Blumen nicht für Menschenaugen, sondern für 
das Auge Gottes geschaffen haben? 
Die alten Basiliken waren orientiert, d. h. so angelegt, daß der nächtlich 
schlafende Kirchenraum frühmorgens vom ersten Sonnenstrahl wachgeleuchtet 
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