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87. Mensch und Trer.
Menschen als eigenartiges Lebewesen der gesamten Tierwelt gegenüber¬
zustellen. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß in den seelischen Eigenschaften
der Tiere mancherlei Anklänge an die des Menschen zutage treten.
Aber die Äußerungen der Tierseele sind höchstens denen einer un-
5 entwickelten Menschenseele vergleichbar. Wenn ein Hund eine gewisse Klugheit
zeigt, wenn er Freude und Trauer, Furcht und Erwartung zu erkennen gibt,
wenn er im Laufe seines Lebens Erfahrungen sammelt und zweckloses Handeln
vermeiden lernt, wenn er Anhänglichkeit an seinen Herrn und Feindseligkeit
gegen dessen Feinde zeigt, so fehlen ihm doch die eigentlichen geistigen Fähig-
10 ketten, das abstrakte Denken, das sittliche Fühlen, Wollen und Handeln, die
freie Persönlichkeit, die Fähigkeit zur Kultur, das Streben nach dem Ideal.
Dazu kommt das Vorrecht des Menschen, der Besitz einer Sprache, die sich
über die Verstündigungsniittel der Tiere untereinander, mögen diese in Lauten
oder in Gebärden bestehn, turmhoch erhebt. Gewiß können Mensch und Tier
15 sich durch mancherlei Zeichen, unter denen Worte eine wichtige Rolle spielen,
miteinander verständigen. Allein diese Zeichen wirken nur als Reize, und
zum Ausdruck abstrakten Denkens können tierische Laute schon darum nicht
werden, weil wir noch kein Anzeichen eines solchen Denkens bei Tieren
wahrgenommen haben.
20 Man braucht nicht so weit zu gehn, alle Äußerungen tierischen Seelen¬
lebens aus Instinkte zurückzuführen. Unter Instinkten verstehen wir un¬
bewußte, ererbte Anlagen zu Handlungen, die zweckmäßig im Interesse der
Erhaltung des Individuums und der Art erfolgen. So baut die Schwalbe
ihr Rest, webt die Spinne ihr Netz, konstruiert die Biene ihre sechsseitigen
25 Waben, ohne daß sie es gelernt hätten, aus Grund erblich von den Vorfahren
überkommener Triebe. Diese Instinkte gewinnen über freiere psychische Hand¬
lungen im Tierleben uni so mehr den Vorrang, je tiefer wir auf der Stufen¬
leiter des Tierreichs hinabsteigen. Sie fehlen aber dem Menschen auch nicht
ganz, wie das Verhalten des neugeborenen Säuglings zur Mutterbrust lehrt.
30 Alles dies zeigt, daß auch die als psychisch im weitesten Sinne zu betrachtenden
Erscheinungen des Tierlebens mancherlei Analogie und Übereinstimmung mit
menschlichen Eigenschaften zeigen, so daß auch auf psychischem Gebiete der
Gegensatz zwischen Mensch und Tier kein so scharfer ist, wie der zwischen
Mensch und Pflanze; wie denn auf rein körperlichem Gebiete der Gegensatz
35 zu den höchsten Tieren fast vollständig schwindet. Dennoch erhebt sich die
Seele oder der Geist des Menschen so hoch über die der vollkommensten
Tiere, daß, wie schon gesagt wurde, die Kluft zwischen beiden als eine tiefe,
unüberbrückbare zu gelten hat.